Vollmond

von | 07.08.2017 | Kreativlabor

Es war klirrend kalt. Der Atem des jungen Mannes entwich in kleinen, weißen Wölkchen, die zum Nachthimmel aufstiegen. Der Wind trug sie fort, um sie im Nichts verschwinden zu lassen. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und hauchte in seine Hände, um sich wenigstens etwas zu wärmen.
Langsam ging der Mond auf. Die runde, weiße Scheibe hing für einen kurzen Moment zwischen den Ästen der alten knorrigen Eiche, als würde sie ihn dort gefangen halten. Er befreite sich aus diesem Gefängnis und stieg weiter zum Himmel auf. Jetzt hatte er seinen höchsten Stand erreicht.
Der junge Mann hob den Blick. Hell spiegelte sich das Licht in seinen Augen. Bei der Betrachtung des Vollmondes begann sein Körper zu zucken. Ein qualvoller Schrei entfuhr seiner Kehle, als er jeden Knochen einzeln brechen und sich neu zusammensetzen fühlte. Der Schrei verhallte in der Nacht. Muskeln zogen sich qualvoll zusammen, Gelenke knackten und sein Rücken wölbte sich unter Schmerzen. Das Licht des Mondes tauchte alles in ein gespenstisches Weiß.
Bevor ihm ein erneuter Laut entfuhr, knirschte der junge Mann mit den Zähnen. Er versuchte sich zu kontrollieren, presste die Lippen zusammen und unterdrückte einen neu aufkeimenden Schrei, der sich in die Freiheit kämpfen wollte. Hoffentlich war heute Nacht niemand unterwegs, der ihn hörte oder gar sah. Diese Begegnung wäre für beide Beteiligten nicht angenehm.
Seine Zähne schlugen aufeinander, als sich sein Körper weiter transformierte. Ein letzter markerschütternder Schmerzensschrei, dann hatte er die Verwandlung hinter sich.
Erleichtert atmete er auf. Die Schmerzen waren vorüber.
Er blickte sich um.
Er war allein.
Seufzend befreite er sich aus dem Klamottenberg und sprang über die rote Wollsocke, die er, wie die restliche Kleidung, zurücklassen musste.
Ein weiterer Sprung über einen der blauen, ausgelatschten Sneaker, der nun überdimensional groß wirkte, und er war frei. Er blickte an sich hinunter und hob eine ehemalige Hand prüfend vor sein Gesicht. Zwischen seinen Fingern hatten sich grüne Schwimmhäute gebildet. An den Fingerspitzen prangten ebenso grüne Knubbel. Kleine bläuliche, kreisrunde Flecken verzierten seine Arme und eine Art bräunlicher Flaum war zu erkennen.
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, dann ließ er seinen Blick prüfend in die Ferne schweifen. Dunkel zeichnete sich seine Silhouette vor dem Vollmond ab, der nun direkt über den Felsen stand.
Er machte sich bereit, öffnete seine Lippen und …
Ein lautes „Quark“ entfuhr ihm.
Erschrocken zog er den Kopf zwischen die Schultern, warf peinlich berührt vorsichtig einen Blick nach hinten.
Er zuckte beschämt zusammen, als sein eben erzeugter Laut von den umliegenden Felsen hundertfach zurückgeworfen wurde.
Quark … Quark … uark … uark … ark … ark … rk … rk …, schallte es ihm entgegen.
Er kniff verlegen die Lippen zusammen, als er argwöhnisch unter seinen Schwimmhäuten hervor blinzelte, die er schützend vor seine Glubschaugen gelegt hatte.
Endlich verhallte dieser blamable Fehlversuch in der Dunkelheit.
Er atmete tief durch, klopfte sich mehrmals mit der Faust auf die Brust und machte ein paar einfache Stimmübungen.
„Mi-mi-miiiii“
Dann räusperte er sich ein letztes Mal, hob den Kopf dramatisch in den Nacken und spitze kurz die Lippen. Mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, riss er den Mund auf.
„AAAAAA-UUUUUUU-UUHHH!!!“, schallte es mächtig aus ihm hervor.
Wenn man genau lauschte, vernahm man sogar die drei sorgsam von ihm angefügten Ausrufezeichen, auf die er besonderen Wert legte. Sie verliehen dem Jaulen, nun ja, einen gewissen Nachdruck. Sein Ruf wurde so mächtig von dem Gestein zurück geschmettert, dass es ihn fast von allen Vieren riss.
Mit stolzgeschwellter Brust sah er sich um. Anerkennend klopfte er sich selbst auf die Schulter. Hätte er Augenbrauen besessen, er hätte sie wohlwollend – aus tiefstem Eigenlob heraus – mehrmals in die Höhe schnellen lassen.
„Das“, dachte er, „war doch definitiv ein Gebrüll, wie es einem Werfrosch würdig ist!“
Er warf noch einen sehnsüchtigen Blick zum Vollmond hinauf, dann hüpfte er unter patschenden Geräuschen zufrieden in die Nacht.

Bücherstädterin Kathrin
Illustration: Buchstaplerin Maike

 

Kathrin Eiting

Kathrin Eiting

Sowohl in ihrer Freizeit, als auch beruflich - Kathrin ist immer von Büchern umgeben. Anders kann sie es sich auch gar nicht vorstellen. Was wäre das Leben schon ohne Seitengeraschel, Bücherduft und spannende Geschichten? Kathrin schaut immer mal wieder in der Bücherstadt vorbei, um ihrer zweiten Leidenschaft nachzugehen: dem Schreiben.

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