Bücherstädterin J. B. Lin hat über das Unaussprechliche zwischen Licht und Schatten und über Geschichten, die im Dunkeln weiterleben, geschrieben. Mit dabei „Frankenstein”, Vampire und der Schrecken der medialen Gegenwart.
Wenn die Nächte länger werden und der Atem kalt in der Luft hängt, erinnert uns Halloween daran, wie nah Licht und Dunkelheit beieinanderliegen. Vielleicht ist das der wahre Grund, warum wir Geschichten erzählen, um die Schatten kurzzeitig zu bändigen.
Dunkelheit hat viele Gesichter. Sie flackern in Kerzenschatten, in verlassenen Straßen, in den stillen Momenten zwischen zwei Herzschlägen. Seit Jahrhunderten sucht der Mensch in dieser Dunkelheit nach etwas – nach Erklärungen, nach Trost oder schlicht nach einem Spiegel. Der Horror war nie nur das Böse, das aus der Tiefe kriecht. Er war immer auch das, was in uns lebt.
Die Anfänge – Mary Shelley und das Monster der Moderne
Als Mary Shelley im Jahr 1818 „Frankenstein“ schrieb, schuf sie nicht nur ein Monster, sondern auch einen Zweifel: Was, wenn das wahre Grauen nicht aus dem Grab kommt, sondern aus dem Labor? Die Angst vor dem Fortschritt, vor der Hybris des Menschen, vor seiner eigenen Schöpfung – das war der erste moderne Schrei des Horrors. Kurz darauf ließ Bram Stoker seinen Dracula über das viktorianische London gleiten: ein Albtraum aus Verlangen, Krankheit und dem Fremden. Und Edgar Allan Poe? Er legte das Grauen in die Seele selbst. Wahnsinn, Schuld, Obsession – sein Horror brauchte keine Blutsauger. Nur das Pochen eines Herzens unter den Dielen.
Der kosmische Schrecken – Lovecraft und das Unaussprechliche
Im frühen 20. Jahrhundert kam ein neuer Schatten: H. P. Lovecraft. Er nahm den Menschen alles, was ihnen Halt gab. Keine Götter, keine Moral, keine Erlösung. Nur das unbegreifliche Chaos des Kosmos, in dem der Mensch ein Staubkorn ist – beobachtet von namenlosen Dingen, die nie hätten erwachen dürfen. Lovecrafts Schrecken war nicht laut, sondern gleichgültig. Und vielleicht war genau das das Beängstigendste daran.
Das Böse im Alltag – Stephen King und der Horror von nebenan
Doch wie alles, was lebt, verändert sich auch der Horror. In den 1970ern zog er um – aus den Gruften und Ruinen hinein in das, was wir Heimat nennen. Plötzlich war das Grauen nicht mehr fern. Stephen King ließ das Böse in Kleinstädten wohnen, in Familien, in vertrauten Gesichtern. Sein Monster trug Jeans, trank Bier, hatte einen Nachbarnamen. In Geschichten wie „Carrie“, „The Shining“ oder „It“ wurde der Horror menschlich – und damit erschreckend nah.
Der psychologische Schrecken – Jackson und Barker
Gleichzeitig entstand eine neue Form von Angst: die psychologische. Shirley Jackson zeigte, dass es keine Geister braucht, um zu spuken – nur Gedanken, die man nicht mehr loswird. In „Spuk in Hill House“ erzählte sie, wie Wahnsinn und Realität ineinanderfließen können. Später brachte Clive Barker mit „Hellraiser“ eine groteske Sinnlichkeit in das Genre: Schmerz und Lust, Körper und Verwandlung. Horror wurde intimer, körperlicher, vieldeutiger.
Der Horror der Gegenwart – unsere modernen Ängste
Heute – im 21. Jahrhundert – lebt der Horror überall. Er trägt Smartphones, scrollt durch Albträume, trägt die Gesichter unserer Ängste: Isolation, Überwachung, Klimakatastrophe. Filme wie „Get Out“, „Hereditary“ oder „The Last of Us“ zeigen, dass das Böse nicht mehr in Katakomben lauert, sondern in Gesellschaften, in Familien, in uns. Das Monster hat kein eigenes Gesicht mehr. Es trägt unsere.
Vielleicht ist das die wahre Entwicklung des Horrors: Er hat uns immer begleitet, aber er wird immer persönlicher. Früher erschraken wir vor Vampiren und Dämonen – heute vor unseren eigenen Entscheidungen. Und während wir weiter in die Dunkelheit blicken, merken wir, dass sie zurückblickt.
Denn Horror war nie nur eine Geschichte, die man erzählt. Er war immer eine Wahrheit, die man zu fühlen wagte.
Und während draußen die Kürbisse leuchten, lauschen wir drinnen den alten Geschichten – von Poe bis King. Vielleicht, weil wir spüren: Ohne ein wenig Dunkelheit würde das Licht langweilig werden.
Bild: Pixabay
Ein Beitrag zur #Todesstadt.



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