Warum verlassen so viele Menschen ihre Heimat? Woher kommen sie und was erleben sie auf ihrer Flucht? Und wie ergeht es ihnen in Deutschland? – Solche oder ähnliche Fragen kommen auf, wenn man die Berichterstattung über die aktuelle große Flüchtlingswelle verfolgt oder selbst geflüchteten Menschen begegnet. Gastautorin Roswitha nähert sich dem Thema mithilfe des Buches „Wenn Menschen flüchten“.
Nicht nur Erwachsene beschäftigt die große Flüchtlingsbewegung, auch Kinder erfahren davon, wenn zum Beispiel neue Mitschüler in die Klasse kommen, die kein Deutsch sprechen und verunsichert sind. Susan Schädlich versucht, Fragen zum Thema kindgerecht zu beantworten und Hintergründe zur Situation der Flüchtlinge aufzuzeigen. Das Büchlein „Wenn Menschen flüchten“ aus dem Carlsen Verlag erscheint eher wie eine Broschüre, mit der über das Thema informiert werden soll.
Das Deckblatt zeigt ein mit vielen Menschen übervoll besetztes Schlauchboot, das über ein Wasser schippert. Das Schlauchboot mit den vielen Menschen an Bord fährt über ein großes Gewässer, das Mittelmeer, es wirkt irgendwie zielgerichtet. Das Ziel heißt Europa, Deutschland, denke ich. Hoffnung für die Menschen im Boot.
In roter Schrift ist der Buchtitel zu lesen: „Wenn Menschen flüchten“. Darunter steht in kleiner, schwarzer und nüchterner Schrift, was die Leser erwartet: Gründe – Fakten – Erlebnisberichte. Auf der Rückseite werden in einer Art Kladdentext die wichtigsten Fragen aufgelistet sowie kurz der Zweck des Buches erklärt. Das klingt so, als ob die wichtigen Fragen sachlich und faktenorientiert beantwortet werden und es entsteht der Eindruck, dass der Inhalt eher für Erwachsene geschrieben wurde.
Sieht man auf der Vorderseite des Buches hoffnungsvolle Menschen auf ihrem Weg nach Europa, zeigt sich auf der Rückseite des Büchleins ein ganz anderes Bild: eine bedrohlich wirkende hohe Mauer, oben verstärkt mit Stacheldraht. Sofort empfinde ich: „Stopp! Dies ist eine Grenze! Draußen bleiben!“.
Diese zwei unterschiedlichen Bilder sagen schon sehr viel aus. Da ist einerseits die Hoffnung so vieler Menschen auf ein besseres, friedlicheres Leben, um das zu erreichen sie große Gefahren und Mühen auf sich nehmen. Andererseits ist da die Ablehnung der europäischen Staaten, ihre Angst vor Überfremdung durch zu viele Flüchtlinge. Sie schotten sich mit teils radikalen Maßnahmen ab, um unter sich zu bleiben. Dies sind zwei wesentliche Aspekte dieser so ernsten Thematik.
Viele Fragen, klare Antworten
In seinem Inneren ist das Buch sehr strukturiert aufgebaut. In roter Schrift die Überschriften der „Kapitel“. Sie fassen in wenigen, klaren und einfachen Worten Fragen und Aussagen zusammen, die dann genauer erläutert werden. Kindgerecht formuliert werden die wichtigsten Fakten kurz und klar in einfacher Sprache dargelegt, ohne große Schnörkel und vor allem ohne mit vielen Zahlen zu belasten. Auf diese Weise erfahren die Leser, dass mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind.
„Wohin gehen die Flüchtlinge jetzt?“ stellt sich als nächste Frage. Es gibt mehrere Möglichkeiten: Sie bleiben entweder an einem anderen Ort im eigenen Land oder sie fliehen ins benachbarte Ausland. Das sind oft Länder, die selbst in großen Problemen stecken und den Massenansturm der Flüchtlinge nicht bewältigen können. Darum wagen viele Menschen die gefahrvolle und mühsame Flucht nach Europa, nach Deutschland.
Verdeutlicht werden diese Informationen durch den Erlebnisbericht eines syrischen Jungen. Er erzählt über die Schrecken des Bürgerkrieges in Syrien und über die Flucht der Familie über das Mittelmeer nach Deutschland. Zeichnungen verbildlichen die Erzählung des Jungen.
Hin und wieder werden weitergehende Informationen geliefert. Diese werden dadurch kenntlich gemacht, dass sie in einem orangefarbenen Rahmen geschrieben stehen. Auf diese Weise werden auch Begriffe wie „Migration“ oder „Genfer Flüchtlingskonvention“ erklärt.
Warum brauchen Flüchtlinge Smartphones?
Die Gründe der Menschen für eine Flucht aus ihrer Heimat werden in einem weiteren Kapitel aufgelistet: Auch hier findet sich eine klare Gliederung mit einfacher, kindgerechter Sprache. Etwa in der Mitte des Buches zeigt eine Landkarte, woher die Flüchtlinge kommen und wohin und auf welchen Routen sie nach Europa gelangen. Allerdings wirkt diese Karte ein wenig unübersichtlich und verwirrend, da nicht alle Länder auf den Fluchtrouten namentlich gekennzeichnet und die vielen Pfeile nicht klar voneinander abzugrenzen sind.
Ein eigenes Kapitel stellt „Kinder auf der Flucht“ in den Mittelpunkt, ihre Gründe zu fliehen, Zahlen, ihre Rechte, die in der „Kinderrechtskonvention“ verankert sind.
Das Bild der hohen Mauer mit dem Stacheldraht taucht etwa in der Mitte des Büchleins wieder auf, wenn über die scharfen Grenzkontrollen in Europa berichtet wird. Trotzdem gelangen immer wieder Flüchtlinge nach Europa, entweder werden sie von europäischen Staaten wie Deutschland aus Krisengebieten herausgeflogen oder sie bezahlen viel Geld an Schlepper oder Schleuser, damit sie – hoffentlich? – in kleinen, überfüllten Schlauchbooten übers Meer bis an Europas Außengrenzen gelangen, um von hier ihren Weg fortzusetzen.
In diesem Zusammenhang wird auch die Frage beantwortet, warum Flüchtlinge Smartphones brauchen. Ich finde es gut, dass diese Thematik aufgegriffen wird, denn oft hört man die Einheimischen darüber schimpfen, dass so viele Flüchtlinge teure Smartphones besitzen, aber ansonsten „nur die Hand aufhalten“. Aus unserem Büchlein erfahren die Leser jedoch von der wahren Bedeutung der Handys als Navigationshilfe, Informationsquelle, Kontaktmöglichkeit zur Familie, Aufbewahrungsort für wichtige Daten und einfach nur als Hort für Erinnerungen an zu Hause.
Endlich in Deutschland!
In einigen wenigen „Stationen“ wird schließlich das Prozedere nach der Ankunft in Deutschland beschrieben, dem sich jeder Flüchtling zu unterziehen hat. Schnörkellos und irgendwie amtlich wirkend. Auch der Ablauf des komplizierten Asylverfahrens wird in einfacher, verständlicher Sprache erklärt.
Einen Eindruck über das Leben, die Belastungen und die Empfindungen von Flüchtlingen nach der Ankunft in Deutschland leistet der Erfahrungsbericht einer kurdischstämmigen Türkin, die als Kind mit ihrer Familie hierher kam. Auch dieses Kapitel wird untermalt mit Bildern, die das Gefühl der Ablehnung und des Ausgegrenztseins auch in den Lesern erzeugen.
Die Frage, ob die derzeitigen Flüchtlingsströme eine Besonderheit sind, wird in einem kleinen Interview mit Prof. Oltmer von der Universität Osnabrück beantwortet. Große Menschenwanderungen gab es in der Geschichte immer wieder aus den unterschiedlichsten Gründen. Auch grenzten sich Städte und Staaten immer schon gegen die Anstürme der Menschen von außen ab. Prinzipiell ist es wichtig und gut, dass Menschen wandern. Auf diese Weise kam und kommt es zu einem für Wirtschaft und Wissenschaft wichtigen Fortschritt. Auch in der jüngeren Geschichte Europas und auch Deutschlands kam es zu Wanderbewegungen von Menschen, z.B. kamen nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als 12 Millionen Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Gebieten ins zerstörte Deutschland.
Jeder von uns hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Vorfahren, die aus anderen Ländern kamen. Mit dieser Erkenntnis und dem Appell an die jugendlichen Leser, freundlich und offen auf Flüchtlingskinder zuzugehen, endet das Büchlein.
Ein Fazit
Susan Schädlichs Büchlein „Wenn Menschen flüchten“ aus dem Carlsen Verlag wurde für Kinder ab 8 Jahren geschrieben, um ihnen zu erklären, warum derzeit so viele Menschen auf der Flucht sind und wer diese Menschen sind, die zu uns nach Europa, nach Deutschland kommen.
Diese Aufgabe löst Schädlich in einer für Kinder dieser Altersstufe sehr gut geeigneten Art, in einfacher und leicht verständlicher Sprache. Untermalt und bildhaft verdeutlicht wird der Inhalt mit – ebenfalls kindgerechten – Zeichnungen. Weiterführende Informationen und Erklärungen finden sich in farbig abgesetzten Rahmen, ebenfalls leicht verständlich dargebracht.
Beruflich bin ich selbst in der Arbeit mit Flüchtlingen tätig, sowohl mit Erwachsenen als auch mit Kindern und Jugendlichen. Die von mir betreuten Kinder besuchen deutsche Schulen, wo sich Gleichaltrige verschiedener Kulturen begegnen. Sie alle erleben die oftmals schwierige Situation der Flüchtlinge auf unterschiedliche Weise.
Viele Fragen tauchen auf, viele Vorurteile gegeneinander bestehen. Aus Gesprächen mit Lehrern in Sprachlernklassen weiß ich um die Unsicherheit, mit dieser Situation angemessen und altersgerecht umgehen zu können. Auch ich werde immer wieder angesprochen: von meinen Landsleuten auf die Flüchtlinge, die in unserem Land Sicherheit finden wollen, aber auch von den Flüchtlingen, wenn es um konkrete Fragen zum Asylverfahren geht. Dies war für mich persönlich der Grund, warum ich mich für dieses Buch interessiere. Durch die Lektüre kann ich bisher unklare Zusammenhänge verstehen, und ich habe auch Neues erfahren.
Alles in allem hat Susan Schädlich ein sehr lesenswertes Büchlein verfasst, das den komplizierten und sehr komplexen Sachverhalt der weltweiten Flüchtlingsbewegungen klar strukturiert und sprachlich leicht verständlich erklärt. Damit ist „Wenn Menschen flüchten“ nicht nur für jüngere Kinder geeignet, sondern auch für Erwachsene, die einen leicht verständlichen und kurzen Einstieg ins Thema bekommen wollen.
Wenn Menschen flüchten – Gründe, Fakten, Erlebnisberichte. Susan Schädlich. Carlsen. 2016.
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