Wiederentdeckte Klassikerinnen (Teil 6)

von | 04.11.2025 | Belletristik, Buchpranger

Nicht alle Klassiker wurden von Männern geschrieben, klar! Trotzdem kennt man vor allem ihre Werke, denn sie werden in den Schulen gelesen und verkaufen sich gut – sie gehören zum Kanon. Worteweberin Annika ist neugierig auf die Klassikerinnen und hat wieder drei Romane unter die Lupe genommen.

„Dienstmädchen für ein Jahr“

Die Abiturientin Helga wollte eigentlich nach dem Abschluss nach Paris reisen, doch nun ist zum ersten Mal in ihrem Leben in ihrer Familie das Geld knapp. Dabei hat sie doch gelernt, „lächelnd durchs Leben zu gehen“, ist als Tochter aus gutem Hause stets gut versorgt gewesen. Was nun? Leichtsinnig geht Helga eine Wette ein: dass sie es schaffen kann, ein Jahr lang unbemerkt als Dienstmädchen zu arbeiten, ohne als Tochter aus gutbürgerlicher Familie erkannt zu werden. Gesagt, getan. Die Osloer Familie, in der sie zuerst Stellung findet, ist jedoch eine wahre Zumutung. Auf einem Gutshof findet sie jedoch bald nicht nur eine harte Arbeit, sondern auch Geborgenheit in der Gemeinschaft. Über ihre Erlebnisse während des Jahres im Dienst berichtet Helga ihrer besten Freundin in der Heimat in persönlichen Briefen im Plauderton, die den Großteil des Romantextes ausmachen. Humorvoll erzählt Sigrid Boo in „Dienstmädchen für ein Jahr“ von sozialer Klasse, Ungerechtigkeit und der Liebe. Ihr leichtfüßiger Roman verbindet Gesellschaftskritik und eine luftig-leichte Coming-of-Age-Geschichte in humorvollem Ton miteinander.

Die Autorin Sigrid Boo (1898-1953) war Norwegerin, aber zu Lebzeiten auch über die Landesgrenzen hinweg bekannt. Ihre Bücher waren Bestseller, „Dienstmädchen für ein Jahr“ wurde sogar mehrfach, unter anderem in Hollywood, verfilmt. Inzwischen ist sie auch in ihrer Heimat in Vergessenheit geraten, viele der insgesamt zehn Romane sind heute nicht mehr aufzufinden. Was für eine Freude, dass Dank der Übersetzung von Gabriele Haefs zumindest Sigrid Boos bekanntester Roman seinen Weg ins Deutsche gefunden hat.

„Viermal ICH“

Ein wenig erinnert Maria Lazars Roman „Viermal ICH“ aus den 1920er Jahren an Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“: Eine junge Frauenfigur verfasst, um ihre Gedanken zu sortieren, „Notizen, vielleicht wird es auch ein Buch, ein Bekenntnis, weiß Gott was.“ (S. 10) Sie blickt auf sich und ihre drei Schulfreundinnen Ulla, Grete und Annette. Unchronologisch, teils konfus und sprunghaft, erzählt sie von der gemeinsamen Schulzeit, ihren ersten Verliebtheiten, ihrer Arbeit in einer Bibliothek, Gretes Ehe mit Axel, zu dem sich auch die Erzählerin hingezogen fühlt. Dabei zeigt die Erzählerin eine starke Identifikation mit den anderen weiblichen Figuren, nimmt sich selbst gleichzeitig regelmäßig als Fremde wahr, wenn sie ihr Spiegelbild oder Reflexionen betrachtet. Zunehmend steigert sich die Erzählerin nicht nur in eine Affäre, sondern vielleicht auch in eine Art Psychose oder Dissoziation herein, die wir Leser*innen in den eingeschobenen Passagen der jeweiligen Schreibzeit mitverfolgen können. Was ist nur Einbildung, was wirklich geschehen?

Damit ist „Viermal ICH“ deutlich radikaler als Keuns bekannter Tagebuchroman und überzeugt auch mit der starken Meta-Ebene, in der das Schreiben und Veröffentlichen als Weg der Befreiung reflektiert wird. Zeitgleich gelingt es Lazar, feministisch und ungeschönt vom Frau-Sein in den 20ern zu erzählen, von Abhängigkeiten, Freiheitsdrang und dem Zwang, der (Ehe-)Frauen qua ihrer Rolle auferlegt wird.

„Jeder Bleistift, mit dem ich schreibe, soll eine Waffe sein. Eine Waffe gegen Grete, gegen Ulla, gegen Annette, und nicht zuletzt auch gegen die Fremde. Und wer hier schreibt, bin ich. Jawohl ich! Ich allein!“ (S. 11)

Maria Lazar (1895-1948) war fast komplett vergessen, bis der Student Albert C. Eibl ihre Werke entdeckte und im selbst gegründeten Verlag „Das vergessene Buch“ herauszugeben begann. „Viermal ICH“ fand er im bis dahin unberührten Nachlass der Autorin und veröffentlichte es 2023 erstmals. Eine unglaubliche Geschichte, die sich in einem Nachwort zum Roman nachlesen lässt. Wie gut, dass „Das vergessene Buch“ sich Maria Lazar verschrieben hat und wir auf viele weitere ihrer Werke hoffen können!

„Das Herz eines Schiffes“

Im Frühjahr hat der Hamburger Mare Verlag mit der Herausgabe gleich vierer Meeres-Klassiker von Autorinnen auf sich aufmerksam gemacht. „Das Herz eines Schiffes“ von Elinor Mordaunt vereint vier im Prinzip klassische Seefahrergeschichten. Insbesondere die erste, „Das Herz eines Schiffes“, fasziniert jedoch durch die ungewöhnliche Erzählkonstruktion. Mordaunt legt den Text wie eine Liebesgeschichte an, beschreibt das Schiff „die Sarah Shane – dieses Luder, diese Circe, diese Verführerin“ (S. 11) als eine Frauenfigur mit starkem Willen in einem ansonsten rein männlich besetzten Setting. Während einer Überfahrt liest die Besatzung einen sonderbaren portugiesischen Schiffbrüchigen auf, der direkt eine enge Verbindung zur Sarah Shane zu haben scheint. Doch die Liebe der beiden ist zum Scheitern verurteilt…

Auch in den anderen drei Erzählungen widmet sich Mordaunt männlichen Figuren und ihren Schicksalen, zum Beispiel in „Der Rückruf“ dem eines jungen Büroangestellten, der sich zum Meer hingezogen fühlt, jedoch nur in einem anderen Leben – einem Tagtraum? – als Galeerensklave zur See fahren kann. Die Protagonisten in „Schwere See“ sind Zwillinge wie Feuer und Eis, die beide auf Schiffen arbeiten und dort schließlich ihren lebenslangen Kampf miteinander zu Ende bringen – eine archaische Kain-und-Abel-Geschichte.

Elinor Mordaunt (1872-1942) verdiente mit der Veröffentlichung ihrer Erzählungen ihren Lebensunterhalt. Schon deshalb ist es wenig erstaunlich, dass sie sich stilistisch und thematisch mit vielen männlichen Zeitgenossen gut vergleichen lässt. Zugleich legt sie einen individuellen Stil an den Tag, vereint, wie Herausgeber und Übersetzer Alexander Pechmann herausstellt, realistische und fantastische Elemente und glänzt in der Anwendung nautischer Begrifflichkeiten. Die Wiederentdeckung ihrer Erzählungen ist darum eine große Bereicherung für den Kanon der Meeresliteratur.

  • Dienstmädchen für ein Jahr. Sigrid Boo. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Rowohlt Kindler. 2025.
  • Viermal ICH. Maria Lazar. btb. 2025.
  • Das Herz eines Schiffes. Elinor Mordaunt. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Mare Verlag. 2025.
Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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