Auf die Frage, ob sie sich als Kind ebenso auf den Weihnachtsmann gefreut hat, antwortete ihre Oma: Der Weihnachtsmann war für die Reichen, für uns war der Wald. Damals hat Anja das nicht verstanden, doch mehr wollte ihre Oma nicht verraten.
Als ihre Oma verstorben ist, hinterließ sie Anja einen Briefumschlag, mit der Bedingung, ihn erst an einem vierten Advent zu öffnen. Trotz ihrer nagenden Neugier hat sich Anja daran gehalten und liest den Brief an jenem Tag mit zitternden Händen:
Meine liebe Anja,
du hast du mich gefragt, ob ich mich als Kind ebenfalls auf den Weihnachtsmann gefreut habe. Der Weihnachtsmann war damals nur für die reichen Kinder und wir waren nicht reich, also werde ich dir zeigen, wer mir die Geschenke gebracht hat. Geh am Tag vor Heiligabend um Schlag fünf in den nächsten Wald und …
Gerade ist der erste Glockenschlag verklungen, da hat Anja auch schon die Grenze zu dem kleinen Wald überschritten. Der Schnee steht ihr bis über die Schienbeine, sodass das Laufen mühsam ist. Der kalte Dezemberwind heult zwischen den Bäumen und lässt Anja frösteln. Sie zieht ihre Mütze mit dem lachenden Kaktus tiefer ins Gesicht und kämpft sich voran, weiße Atemwolken steigen von ihr auf. Immer geradeaus.
Sie läuft beinah schon eine Viertelstunde, da kommen die ersten Zweifel. War der Brief doch nur ein Märchen?
Es vergehen weitere fünf Minuten und gerade will Anja umkehren, da erkennt sie zwischen den Bäumen einen Ort aus dem Brief wieder: ein von fünf Bäumen umringter Bereich, in dessen Mitte ein Gefäß steht. Auch wenn der Ort, abgesehen vom Gefäß, dem sonstigen Wald zu gleichen scheint, umgibt ihn eine andere Atmosphäre: mystischer … unheimlicher.
Anja zögert kurz, doch schließlich obsiegt die Neugier über die Furcht.
Sie hält die Luft an, als sie den Baumkreis durchschreitet und sofort umfängt sie eine angenehme Wärme.
Schnell setzt Anja den Rucksack ab und zieht daraus eine Plastiktüte, eine Keksdose und eine Glasflasche mit einer roten Flüssigkeit hervor. Aus der Plastiktüte zieht sie ein Kaninchen, das bereits gehäutet und ausgenommen ist und legt es neben die Dose und die Flasche auf den Waldboden.
Noch einmal tief durchatmend stellt sich Anja vor das Gefäß, einen roten Eimer, dessen einstige Farbe sie nur noch erahnen kann. Mit einem Stück Zeichenkohle malt sie sich ein Kreuz auf die Stirn und beide Handrücken, dann packt sie das Kaninchen an den Hinterläufen.
Sprich: Dies ist mein Geschenk an dich für dein Geschenk an mich.
Anja lässt das Kaninchen in den Eimer fallen, öffnet die Keksdose, wirft die selbstgemachten Plätzchen hinterher und leert den Inhalt der Flasche in das Gefäß. Dann dreht sie ihm den Rücken zu, blickt in Richtung des Baumkreises.
Sie tritt vor den ersten Baum und flüstert, wie im Brief steht: Der Tisch ist gedeckt. Sie klopft zwei Mal auf das Holz und geht zum nächsten Baum. Dort zitiert Anja weiter: Ich lade dich ein. Wieder zweimal klopfen.
Abwechselnd wiederholt Anja die beiden Sätze bei jedem der fünf Bäume, die die Lichtung säumen, und kniet sich dann vor den roten Eimer. Ein letztes Mal flüstert sie den zweiten Satz, nur dieses Mal lauter.
Mit jedem Klopfen ist es kälter geworden und Anja kann ihren Atem wieder sehen. Mit der Kälte kehrt auch der Wind zurück, nur anstatt zu wehen tanzt er jetzt. In diesen Tanz stimmt etwas mit ein, was nicht der Wind zu sein scheint. Ein Geist?
Anja kommt die Warnung aus dem Brief in den Sinn: Sprich nicht mit ihm!
Als Anja hörbar ausatmet, wird das Wesen auf sie aufmerksam. Es spricht, während es um sie herumtanzt. Mal klingt es näher, mal weiter weg. Es stellt Fragen und äußert Vermutungen. Ob sie denn wisse, was sie hier tue. Gleich darauf: dass sie es bestimmt nicht wisse.
Nach einigen Momenten schweigt der Geist und selbst der Wald scheint mit ihm zu schweigen. Anja spürt, dass das Wesen ihr nun gegenübersteht, denn sie fühlt seinen erwartungsvollen Blick.
Er muss dich um deinen Wunsch bitten!
Anja hält dem Blick stand, bis der Geist aufgibt und sie nach ihrem Wunsch fragt. Ohne etwas zu sagen, zieht Anja ein Stück weißes Leintuch aus der Jackentasche: Darauf sind ihr Wunsch und ein geforderter Tropfen Blut. Sie wirft es in den Eimer und wartet.
Anja hört das zufriedene Schmunzeln, als der Geist sie lobt und sich bedankt. Daraufhin beendet der Wind seinen Tanz.
Ein Knacken ertönt, welches in Anja die Vorstellung auslöst, als würde sie auf dünnem Eis über einen zugefrorenen See laufen. Erst als dieses Geräusch verklingt, fällt all die Anspannung von Anja ab und sie erhebt sich. Schweigend packt sie ihre Sachen, reibt sich die Kohlekreuze ab und verlässt den Baumkreis. Mittlerweile schneit es und Anja lächelt auf dem Weg nach Hause zufrieden.
Text: Geschichtenerzähler Adrian
Illustrationen: Geschichtenzeichnerin Celina
[tds_note] Ein CLUE-Beitrag zum Special #litadvent. In diesem Jahr haben wir vier Clues vorgegeben, die in den kreativen Texten auftauchen sollten: Schlag, auf dünnem Eis, Kaktus, roter Eimer. Was sich die AutorInnen ausgedacht haben, könnt ihr an den Advents-Wochenenden hier in der Bücherstadt erfahren. Anhand dieser Illustration, gestaltet von Seitenkünstler Aaron, erkennt ihr alle CLUE-Texte.
Zwischen den Wochenenden erwarten euch u.a. Buch- und Filmtipps zur Winter- und Adventszeit und einige spannende Buchverlosungen. Hier werden alle Beiträge zum #litadvent gesammelt. Wir wünschen allen eine besinnliche, ruhige Adventszeit und viel Freude beim Lesen!
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