„Zugrund – das heisst zum Meer“ – Böhmen liegt am Meer?

von | 14.09.2017 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Hans Höller und Arturo Larcati gelingt mit „Winterreise nach Prag“ ein gelungener Ausblick auf die Salzburger Bachmann-Gesamtausgabe: Wortklauberin Erika verfolgt mit ihnen die Spuren von Ingeborg Bachmanns Reisen im Jahr 1964.

„Zugrund – das heisst zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.“ („Böhmen liegt am Meer“, S. 17)

Im Jahr 1964 reist die österreichische Autorin Ingeborg Bachmann in Begleitung von Hans Opel nach Prag. 1962 erklärte sie, ihr fehle der Zwang, den sie als eine Grundvoraussetzung für das Schreiben empfand. „Es werde erst wieder Gedichte geben, wenn es ‚Gedichte sein müssen und nur Gedichte, so neu, daß sie allem seither Erfahrenen wirklich entsprechen.‘“ (S. 53) Hier, zwei Jahre später im winterlichen Prag, entsteht das Gedicht, welches die Dichterin als ihr letztes und schönstes bezeichnen wird: Tatsächlich schreibt sie nach „Böhmen liegt am Meer“ keine weiteren Gedichte mehr.

Hans Höller und Arturo Larcati greifen die Gedichte, die während dieser Reise entstanden sind, auf und lesen sie erstmals zusammen als „Winterreise-Zyklus“. Von den sieben Gedichten – „Enigma“, „Prag Jänner 64“, „Böhmen liegt am Meer“, „Wenzelsplatz“, „Jüdischer Friedhof“, „Poliklinik Prag“ und „Heimkehr über Prag“ – wurden nur drei zu Lebzeiten der Autorin veröffentlicht. Wohl auch deshalb wurden sie bislang nicht als Zyklus betrachtet. Dabei passen sie, wie Höller und Larcati anschaulich darlegen und begründen, hervorragend zusammen.

Eine Werkeinführung

„Winterreise nach Prag“ ist für ein breites Publikum geschrieben, weshalb wohl überlegt auf bestimmte wissenschaftliche Konventionen im Stil verzichtet wurde. Auch für komplette Neulinge der Bachmann-Lektüre ist es möglich, den Faden aufzugreifen, den die beiden Autoren auslegen, und ihm zu folgen. Von Vorteil ist es, wenn man sich vorher mit der Biographie von Bachmann auseinandergesetzt hat. Man kann den Ausführungen aber auch folgen, wenn man noch nie etwas von Ingeborg Bachmann gelesen oder gehört hat.

Das Buch ist in sieben Kapitel geteilt, wobei die ersten drei als eine Art Einführung zu verstehen sind. Zunächst erhalten Leserinnen und Leser einen Einblick in die Gedichte des Winterreise-Zyklus selbst, wobei ein kurzer Kommentar die Publikationsgeschichte des jeweiligen Gedichtes nachvollziehbar macht. Davon ausgehend kontextualisieren die zwei weiteren Kapitel die Pragreise Bachmanns und Opels sowie die Krankheit Ingeborg Bachmanns. Gerade während der 1960er Jahre, nach einer schmerzhaften Trennung von ihrem langjährigen Geliebten Max Frisch, litt Bachmann stark.

Die abschließenden vier Kapitel konzentrieren sich auf den Kontext der Winterzyklus-Gedichte, wobei jedes von ihnen unter dem Motto eines Gedichtzitats steht. Während zunächst noch der gesamte Zyklus im Vordergrund steht, konzentrieren sich Höller und Larcati zunehmend auf „Böhmen liegt am Meer“, das letzte Gedicht, das Bachmann schrieb. Gerade im siebten und letzten Kapitel wird die Rezeption von „Böhmen liegt am Meer“ in Kunst, Musik und Film angesprochen.

Stimmen

Hans Höller ist an der Entstehung der Salzburger Bachmann-Werkausgabe beteiligt, die seit Herbst 2016 im Suhrkamp Verlag erscheint. Entsprechend tief greifen seine Kenntnisse über Bachmanns Leben und Werk sowie die sozialen Netze, welche sich darüber spannen. Nicht nur Ingeborg Bachmann selbst kommt zu Wort, sondern auch eine ganze Reihe von bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten. So erwähnen Höller und Larcati neben Max Frisch und Paul Celan auch den Mitreisenden Hans Opel, der seine Reisen mit Ingeborg Bachmann zu Papier brachte und veröffentlichte. Daneben kommt die deutsche Autorin Christa Wolf zu Wort, die in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen über das Geschlechterverhältnis von Autorinnen und Autoren sprach, wobei sie Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“, einen der „Todesarten“-Romane, als Bespiel behandelte.

Große Themen

So vielfältig wie die Stimmen zu Ingeborg Bachmann sind auch die angeschnittenen Themen. Zu all diesen gibt es viel zu sagen, doch Höller und Larcati verstehen es, sie auf signifikante Beispiele herunterzubrechen, ohne sich in hochwissenschaftlichen Diskussionen zu verlieren. Das Netzwerk rund um Ingeborg Bachmann zeigt sie als Autorin in einer von Männern dominierten Institution, die versucht, über ihre Prosa daraus auszubrechen und sich einen neuen Ort zu schaffen.
Zugleich schreibt sie in einer Zeit, in welcher die Heimat als Begriff neu definiert werden muss: In der Nachkriegszeit, in welcher die Grenzen der Sprache umso deutlicher hervortreten, ist es nicht nur Paul Celan, der die Behauptung Adornos überschreitet, nach Auschwitz sei keine Lyrik mehr möglich. Auch Ingeborg Bachmann setzt sich über die Grenzen der Sprache hinweg, die sie nicht zu den Grenzen ihrer Welt werden lässt.

„Wir aber wollen über Grenzen sprechen, / und geht auch Grenzen noch durch jedes Wort: / wir werden sie vor Heimweh überschreiten / und dann im Einklang stehn mit jedem Ort.“ („Von einem Land, einem Fluß und den Seen“, S. 123)

Ingeborg Bachmann für Wissenschaftler und Liebhaber

Es ist schwierig, wissenschaftliche Thematiken so spannend und fesselnd darzustellen und damit einem breiten Publikum schmackhaft machen. „Ingeborg Bachmann. Winterreise nach Prag“ ist nicht nur ein Buch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch für alle, die sich für die Autorin interessieren.
Dabei mussten auch Abstriche im wissenschaftlichen Bereich gemacht werden. So findet sich keine genaue philologische Aufschlüsselung der Textgenese der Gedichte – also wie die Gedichte Schritt für Schritt entstanden sind –, in denen jede Änderung nachvollziehbar beschrieben wäre. Vielmehr bewegen sich die Abschriften von Bachmanns handgeschriebenen Notizen an der Oberfläche, wobei nur die wichtigsten Veränderungen am Text gekennzeichnet werden. Auch auf eine vollständige Bibliographie wird verzichtet, stattdessen werden die am häufigsten zitierten Bücher und Nachlass-Texte erwähnt. Wenngleich die Fußnoten vollständig belegt sind, wäre eine Liste am Ende dieser beeindruckenden Monografie für wissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser von Vorteil.

Dieses Buch liest sich wie ein spannendes Essay, gibt viel Information und eine ausführliche Übersicht über die Reisen Ingeborg Bachmanns in den 1960er Jahren. Nicht zuletzt deshalb ist es allen, die neugierig auf die österreichische Autorin sind, zu empfehlen.

  • Ingeborg Bachmann. Winterreise nach Prag. Hans Höller, Arturo Larcati. Piper. 2016.
  • Adolf Opel. „Wo mir das Lachen zurückgekommen ist…” Auf Reisen mit Ingeborg Bachmann. Langen Müller. 2001.
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