Ich hoffe, dass noch viele solche Bücher erscheinen werden, die vor allem gute Geschichten erzählen und in denen Vielfaltsmerkmale nicht im Mittelpunkt stehen, sondern einfach ganz normal sind.
Der Gemeinschaftsblog „buuu.ch“ widmet sich „diversen Kinderbüchern“. Im Rahmen unseres Specials „Kunterbunt“ hat Zeichensetzerin Alexa der Autorin und Mitgründerin des Blogprojekts Carla Heher 10 Fragen zu Rollenbildern, Geschlechterklischees und Diversität in Kinderbüchern gestellt.
1. Den Gemeinschaftsblog „buuu.ch“ gibt es ja bereits seit 2012. Was war damals deine Motivation, Kinderbuchkritiken unter dem Schwerpunkt „Diversität“ zu veröffentlichen?
Damals war mein erstes Kind noch ganz klein. Ich habe unter anderem ein sehr hübsch illustriertes „Erstes Bildwörterbuch“ gekauft, in dem Hasen Hauptfiguren waren. Überraschenderweise strotzte das Buch nur so vor Geschlechterklischees. Der „Mädchenhase“ weint und malt und spielt mit Puppen, der „Bubenhase“ ist wütend und spielt mit Bausteinen. Ich wollte meinem Kind nicht von Anfang an solche Vorstellungen als Normalität präsentieren. Gleichzeitig entdeckte ich wirklich tolle und vorlesenswerte Kinderbücher und wollte die gern weiterempfehlen.
Via Twitter haben sich ein paar Eltern über grottige aber auch gute Kinderbücher ausgetauscht und so entstand die Idee, diese auf einer Plattform zu sammeln. „Schnell und schmutzig geschrieben, weil für viel Blabla hat Elter eh keine Zeit!“ war damals das Motto. Der Schwerpunkt lag vor allem auf Rollenbildern.
Zwischenzeitlich verschwand der Blog für einige Zeit in der Internetversenkung, Prioritäten verschoben und Ressourcen änderten sich, Kinder kamen zur Welt. Ich dachte, dass bestimmt einige vergleichbare Projekte mit einem ähnlichen Schwerpunkt nachkommen werden, die gezielt nach den progressiven, den vielfältigen Kinderbüchern suchen. Aber dem war nicht wirklich so, darum beschloss ich im Sommer 2017, buuu.ch mit neuen Mitautor_innen gemeinsam wiederzubeleben.
2. Wie wählst du eigentlich die Bücher aus, die du besprichst?
Sehr intuitiv. Ich liebe es zu recherchieren, in Buchhandlungen, in der Bücherei, im Internet, im eigenen Bücherregal und natürlich auch in den Verlagsvorschauen. Nicht immer ist das, was auf den ersten Blick gut erscheint, dann auch so, oft ganz im Gegenteil. Manche besonderen Bücher entdecke ich dafür nur ganz zufällig, weil sie auf den ersten Blick sehr unspektakulär erscheinen.
3. Welche Kriterien sollte ein Kinderbuch eurer Meinung nach erfüllen, um tatsächlich „divers“ zu sein?
Das Buch sollte vielfältige und progressive Rollenbilder vermitteln, keine Stereotypen und Klischees reproduzieren und marginalisierte Charaktere oder Lebensrealitäten nicht im Voraus ausschließen. Zu Beginn lag der Fokus vor allem auf Geschlechterrollen, aber die fehlende Vielfalt beschränkt sich selbstverständlich nicht nur darauf. Nur wenige Kinder finden in den meisten Kinderbüchern ihre Wirklichkeit wieder. Ich lese gerne Bücher vor, in denen die Klassengemeinschaft und der Freundeskreis meines Kindes repräsentiert werden. Da gibt es Kinder mit unterschiedlichen Hautfarben und kulturellen Backgrounds, behinderte Kinder, Kinder von alleinerziehenden Müttern, von getrennten und von cis- und transidenten und hetero- und homosexuellen Eltern. Ich finde es aber auch ganz gut, dass wir uns selbst nicht einschränken und auch mal ein nettes Buch über Tiere oder Fahrräder vorstellen. Diverse Kinderbücher eben.
4. Auf eurem Blog stellt ihr den Bechdeltest als eine Möglichkeit dar, wie Rollenbilder untersucht werden können. Wenn du nun auf deine verfassten Kritiken zurückblickst – wie viele Kinderbücher haben diesen Test bestanden?
Der Bechdel-Test ist nicht auf alle Kinderbücher, die ich bespreche, anwendbar, aber die meisten bestehen ihn. Das heisst, darin kommen mindestens zwei Frauen oder Mädchen mit Namen vor und zu Wort und sie sprechen nicht allein über Männer oder Jungen. Frauen und Mädchen sind in Kinderbüchern nach wie vor krass unterrepräsentiert. Dass ich überproportional viele Bechdel-approved-Bücher vorstelle, hat vor allem den Grund, dass Werke, in denen keine Frauen vorkommen, so richtig, richtig gut sein müssen, dass ich sie überhaupt weiterempfehle.
Aber der Bechdel-Test allein ist an sich noch kein Qualitätsmerkmal. Es gibt viele Bücher, vor allem welche ab dem Erstlesealter die mehrheitlich, Gendermarketing sei Dank, in der Rosa-Hellblau-Falle feststecken. Während Kleinkinder noch „neutral“ lesen dürfen, gibt es später sehr viele dümmliche Prinzessinnen- und Ponygeschichten „für Mädchen“. Das Pendant sind nicht minder dümmliche Piraten- und Fußballgeschichten „für Jungs“. In ersteren kommen natürlich durchaus viele Frauen vor, aber diese Bücher lese ich nicht vor. 🙂
5. Konntest du in den letzten Jahren inhaltliche Veränderungen hinsichtlich diverser Themen im Kinderbuch beobachten?
Ich finde, dass sich in den letzten Jahren diesbezüglich einiges auf dem Buchmarkt getan hat, aber Vielfalt steht im Kinderbuchbereich definitiv noch nicht im Vordergrund. In England sind 2017 beispielsweise 9115 Kinderbücher veröffentlicht worden, in nur 4% davon kommen Kinder vor, die einer marginalisierten Gruppe (Black, Asian and minority ethnic) angehören. 1% der Bücher haben einen solchen Hauptcharakter. Für den deutschsprachigen Buchmarkt konnte ich Ähnliches beobachten. Es ist jedoch trotz zahlreicher Negativbeispiele zu bemerken, dass auch größere Verlage immer wieder das eine oder andere Buch herausbringen, bei dem man merkt, dass allen Beteiligten Geschlechtergerechtigkeit, Diversität, Weltoffenheit und das Aufbrechen von Klischees ein Anliegen ist.
6. Sind dir beim Analysieren von Kinderbüchern bestimmte Themen oder sonstige Inhalte vermehrt aufgefallen?
Leider sind viele Kinderbücher, in denen offensichtlich die Darstellung von Vielfalt im Vordergrund steht, sehr problematisierend und mehr als das: Oft gibt es Anerkennung erst im Austausch gegen Leistung. Zum Beispiel: Die Mäuse sind von vornherein unfreundlich zum Lurch, der bei ihnen Zuflucht findet, bis sie bemerken, dass er eigentlich ziemlich nützliche Eigenschaften hat und eine Bereicherung für ihr Leben ist. Oder: Der Eseljunge, der lieber mit den Eselmädchen ins Ballett geht und deswegen ausgelacht wird, findet erst Anerkennung, als er bei einem Fußballmatch ein Tor „tanzt“.
7. Was würdest du dir für die Zukunft bzgl. diverser Kinderbücher wünschen?
Geschichten wie „Kalle und Elsa“ zum Beispiel. An diesem Buch ist alles großartig. Die fantastischen, detailreichen Illustrationen von Jesús Verona, der stimmige Text von Jenny Westin Verona, die gelungene Charakterzeichnung der beiden Kinder. Elsa ist ein furchtloser und mutiger Wildfang, während Kalle klar der Sensiblere der beiden ist. Dass Kalle Schwarz ist und auch mal rosa Kleidung trägt, wird in dem Buch weder thematisiert noch problematisiert. Die Kinder sind einfach so, wie sie sind. Ich hoffe, dass noch viele solche Bücher erscheinen werden, die vor allem gute Geschichten erzählen und in denen Vielfaltsmerkmale nicht im Mittelpunkt stehen, sondern einfach ganz normal sind.
8. Welche drei diverse Kinderbücher könnt ihr unseren Leserinnen und Lesern außerdem ans Herz legen?
Für Jüngere finde ich die Pappbilderbücher von Constanze von Kitzing „Ich bin jetzt…“ und „Ich mag…“ sehr empfehlenswert. Sie kommen mit sehr wenig Text aus und eignen sich (auch aufgrund der verstärkten Seiten) schon für ganz kleine Kinder. Nicht zuletzt wegen der detailreichen Illustrationen, die viel Raum für Interpretation bieten, begeistern sie aber auch ältere. In den Büchern geht es um Kinder und ihre ganz individuellen Eigenschaften, um Gefühle und Vorlieben. Sie sind so aufgemacht, dass sie dazu animieren, Klischees zu dekonstruieren und die eigene Gefühlswelt zu reflektieren.
„Ich so, du so: Alles super normal“ ist ein abgefahrenes Sach-, Mitmach- und Nachdenkbuch von der Labor Ateliergemeinschaft zum Thema Normalität. Das Buch (ab 9, manche Kapitel eignen sich auch schon zur Lektüre mit jüngeren Kindern) ist eine Wundertüte voller Illustrationen, Comics, Fotos, Geschichten und gut aufbereiteten Sachinfos. Jede Seite ist anders und über jede einzelne freut man sich ein bisschen, weil sie so clever gemacht ist.
Das bestärkende und unaufgeregte Bilderbuch (ab 4) „Der Junge im Rock“ von Kerstin Brichzin und Igor Kuprin, in dem ein ebensolcher im Mittelpunkt steht, fand ich sehr schön und berührend. Während „bubenhafte“ Mädchen als stark und cool gelten, trifft das für „mädchenhafte“ Buben überhaupt nicht zu. Mädchen werden ermutigt, ihre eigenen Entscheidungen abseits von Rollenvorstellungen zu treffen, aber umgekehrt passiert dasselbe selten.
9. Zum Schluss noch unsere zwei BK-Fragen: Stell dir vor, du wärst ein Buch – welches wäre es?
Ich wäre ein Kindersachbuch (so ein „Wieso, Weshalb, Warum“ oder ein „Was ist was“) zum Thema Gleichberechtigung, Gender, Frauenrechte und Feminismus, illustriert von meinen talentierten Freund_innen.
10. Und: Welche Frage wolltest du in einem Interview schon immer mal gestellt bekommen und was wäre deine Antwort?
Welche Art von Kinderbuch ist völlig überholt und sollte deiner Meinung nach längst in der Versenkung verschwunden sein, erfreut sich jedoch nach wie vor großer Beliebtheit?
Moralisierende Kinderbücher, die mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommen und für die Erwachsenen Erziehungsarbeit übernehmen sollen. Die gibt es zu ganz expliziten Thematiken, etwa zu „gutem Benehmen“, zur Schnullerabgewöhnung oder zu Eifersucht. Ich glaube nicht, dass so etwas jemals funktioniert hat und ich glaube auch nicht, dass Kinder Spaß daran haben, solche Bücher anzuschauen.
Und ich finde die in Frage 9 genannten Sachbuchreichen zwar teilweise ganz gut gemacht, aber die Themen furchtbar öde! Die gehören dringend ein bisschen aufgemischt.
Ein Beitrag zum Special #Kunterbunt. Hier findet ihr alle Beiträge.
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