Adventskalender 2018: Türchen 3

von | 03.12.2018 | #litkalender, Kreativlabor

Operation „Joker“ (Teil 1)

Ein verhängnisvolles Telefonat

Wenn Darius Kolb morgens eins nicht leiden konnte, war es dieser Klang von pseudo-gutgelaunten Menschen, die in der Polizeiwache beflissen in ihren Kaffeepötten rührten und dabei so taten, als wäre die Welt völlig in Ordnung. Hinzu kam in der Vorweihnachtszeit noch der Geruch von Spekulatius und Lebkuchen, der sich hartnäckig im Büro hielt.
Er atmete noch einmal tief durch, bevor er schwungvoll die Tür zum Büro aufstieß, wo sein Chef, Dr. Brummer, nebst Kollegen schon auf ihn zu warten schien. „Kollege Kolb, guten Morgen“, Brummer lächelte höchst unangenehm.
„Morgen zusammen“, nuschelte Darius und ging direkt zu seinem Schreibtisch. Er strich mit den Fingerspitzen über das Holzimitat und blendete die anderen Anwesenden einfach aus. Nach der verpatzten Aktion gestern fragte er sich, ob er sich nicht generell in den Innendienst versetzen lassen sollte. Die Büroeinrichtung konnte ihm nicht weh tun und er hätte gewisse Aufstiegschancen.
Brummer riss ihn jäh aus seinen Gedanken: „Kolb, wir reden jetzt nochmal über die missglückte Operation! Das nächste Mal möchte ich alle diese Spinner in einer Zelle sehen! Also, was genau war da draußen los?“
Darius seufzte gegen das nervtötende Geklapper der Kaffeelöffel an. „Ich sagte Ihnen doch gestern schon, dass ich zu spät mit den Jungs vor Ort war. Die Typen waren bereits über alle Berge.“ Er schloss die Hand, in der sich die am Tatort gefundene Anstecknadel befand.
„Das stimmt!“, warf ein jüngerer Kollege ein, „Als wir kamen, haben wir in jeden Schrank geschaut, jede Matratze umgedreht und sogar unter dem Teppich nachgesehen, da war nicht mal mehr eine Waffe! Nur eine komische Nadel!“
„Etwa in einem Heuhaufen?“, Brummer wurde unangenehm. Und sarkastisch; kein gutes Zeichen.
Irritiert schaute der Jungspund weg.
„Wissen Sie“, ergriff Darius wieder das Wort, „da war niemand mehr. Ich meine, weder Personen, noch Waffen, noch Pläne – einfach nichts.“
Brummer bewegte sich zwei Schritte auf Darius’ Schreibtisch zu und blickte ihm direkt in die Augen. „Sie wissen aber schon, was diese Aktion gekostet hat? Da ist Nichts etwas zu wenig!“
Das wusste Darius, klar. Trotzdem würde er nicht klein beigeben. Heute nicht! „Entschuldigen Sie, das nächste Mal passe ich besser auf, mit welchen Aktionen ich unsere Steuergelder verschleudere.“
Zwei Kollegen kicherten.
Hochrot im Gesicht schrie Brummer: „Sie fahren da ein weiteres Mal vorbei! Der Typ könnte jederzeit wieder zuschlagen!“
„Was? Aber das ist doch …“
Brummers Faust donnerte auf den Schreibtisch. „Nichts aber, nehmen Sie sich ihren Nadel-im-Heuhaufen-Sucher mit“, er wies auf den Jungspund, „und gehen Sie mir aus den Augen!“
In dem Moment klopfte es an der Bürotür. Darius’ Neffe schaute irritiert in den Raum. „Passt es gerade nicht? Ich kann auch später noch mal wiederk…“
Darius setzte sich betont lässig auf seinen Bürodrehstuhl und warf die Anstecknadel auf den Tisch. Erleichtert rief er: „Nein, alles gut. Komm rein, wir sind gerade fertig.“
An der Tür drehte sich Brummer noch einmal um. „Bringen Sie mir bald diese Typen, Kolb!“ Dann verschwanden er und die anderen Kollegen auf den Gang.
„Ich geh mir noch mal schnell ein belegtes Baguette holen“, murmelte der Jungspund und verließ ebenfalls das Büro.
„Ganz schön was los hier!“ Darius’ Neffe Moritz zog sich einen Stuhl heran.
Darius kochte innerlich, meinte aber lässig: „Nur der übliche Wahnsinn. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs? Ich habe leider nicht viel Zeit.“
Moritz beugte seinen Oberkörper etwas vor. „Es dauert nicht lange. Marian ist seit gestern Nachmittag wie vom Erdboden verschluckt. Er geht nicht ans Handy und hat keine Nachricht hinterlassen, ich mache mir ernsthafte Sorgen.“
„Vermisstenanzeige gestellt?“ Darius fuhr seinen Dienst-PC hoch.
„Nein, es sind noch keine 24 Stunden. Ich habe seine Eltern, Geschwister, Freunde, von denen ich die Nummer habe, angerufen … nichts.“ Verzweifelt warf er die Arme in die Höhe. „Allerdings verhielt sich einer von denen merkwürdig.“
„Inwiefern denn merkwürdig?“ Darius klickte in seiner Eingabemaske herum.
Moritz holte tief Luft. „Er sagte, er wüsste nicht, wo der Joker sich rumtreibt und kicherte dabei irre. Dann rief er noch in den Hörer, dass ich mich nicht einmischen soll.“
Irgendwie gefiel Darius das alles gar nicht. „Wieso nennt er ihn Joker?“
„Das ist sein Cosplay-Charakter. Weißt schon, der Typ aus Batman.“
„Hm. Ist er möglicherweise auf einem Weihnachtsmarkt versackt?“
„Die haben normal nicht so lange auf und selbst betrunken hätte er sich gemeldet.“
„Vielleicht hat er für euch eine Weihnachtsüberraschung geplant.“
Moritz winkte ab. „Das ist nicht anzunehmen.“
„Hat es bei euch gekriselt? Vielleicht ist er ja durchgebrannt.“ Darius glaubte selber nicht daran, aber möglich war alles. Das hatte er in seinem Job schnell lernen müssen. Meist war es die unwahrscheinlichste Interpretation eines Falles, die zutraf.
„Nein! Also … nicht, dass ich wüsste.“ Moritz nahm die Anstecknadel vom Schreibtisch. „Ein Dolch? Warte mal …“ Sein Neffe zückte das Smartphone und zeigte Darius kurz darauf ein Foto. „Marian und seine neuen Freunde“, erklärte er. Im Hintergrund des Fotos prangten die Buchstaben RAC, die auch auf den Anstecker graviert waren, auf einem großen, mit Dolchen dekorierten Banner. Einen davon kannte Darius. Mehrfach vorbestraft. „Der neben deinem Freund nennt sich Riddler“, sagte er gedankenverloren.
„Ja, ist seine Rolle“, bestätigte Moritz und schaute verwirrt, dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Oh Mann, bin ich blöd! Heute ist die ComicCon! Eventuell ist Marian schon da, wir wollten zusammen hin!“
Darius stampfte mit dem Fuß auf. „Scheiße, verfluchte! Das ist die Lösung! Da werden noch ein paar mehr rumlaufen.“ Er schnappte sich den Telefonhörer. „Sofort ein paar Kollegen zum Messe-Gelände am Kanal schicken und bei der kleinsten Gefahr die Leute evakuieren – selbst, wenn ihr sie nur wittert! Ich bin unterwegs!“ Er krachte den altmodischen Hörer auf das Gerät.
Moritz zuckte zusammen. „Was ist los?“
„Die neuen Freunde deines Liebsten gehören zu einer Untergrund-Organisation. Sie stiften Unruhe und haben schon mehrfach in der Stadt für Chaos gesorgt. Ich könnte wetten, die haben auf der ComicCon etwas vor!“ Beide sprangen gleichzeitig auf.
„Ich komme mit! Wenn Marian wirklich da ist, will ich dabei sein!“

„Boah, wieso konnte dein Kostüm nicht ohne Cape sein?“, fragte Mona genervt und versuchte, das widerspenstige Stück Stoff zurecht zu zupfen.
Nachdem sie eine ganze Weile gebraucht hatten, um überhaupt eine Behindertentoilette zu finden, mussten sie das Kostüm von Lisa wieder so herrichten, dass es sich nicht in den Rollstuhlrädern verhedderte. Das Cape erwies sich dabei als eine Herausforderung mit erhöhter Schwierigkeitsstufe.
„Es gehört nun mal zu Batgirl!“ Die störrische Antwort wurde galant von einem Schnauben begleitet.
„Ja, aber Edna wäre auch dagegen gewesen!“, widersprach Mona vehement.
„Edna Mode hat das nicht designed. Und Verbrechen bekämpfen will ich damit sowieso nicht.“
Noch immer grummelte Mona, aber endlich legte sich der Stoff so über die Lehne des Rollstuhls, wie sie es wollte.
„Außerdem war es entweder Cape oder Gummiglatze, die du mir alle paar Minuten wieder zurechtrücken müsstest“, erinnerte Lisa sie mit einem Grinsen im Gesicht.
Mona beugte sich zu ihrer Freundin herunter, um ihr direkt ins Ohr zu flüstern: „Ich hätte dir aber genauso gut die Haare abrasieren können …“
„Als ob ich dich nur ansatzweise in die Nähe meiner Haare lassen würde …“, erwiderte diese und schüttelte den Kopf.
Gerade als Mona ansetzen wollte, etwas zu sagen, hob Lisa ihre Hand. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihrer Freundin zu lauschen. „Hörst du das auch?“
Vor der Toilette sprach eine laute Stimme. Sie klang wütend.
„Was heißt das? Der Typ ist abgesprungen?! Es muss heute geschehen!“, drang es an ihre Ohren, weitere Worte wurden von der Tür verschluckt.
„Dann muss ich es ihnen selber zeigen! Die werden sich hüten, mich zu unterschätzen! Riddler … und Co werden sich umsehen … pah!“
Der Ton wurde immer schärfer, immer aufgebrachter und die Freundinnen sahen sich besorgt an. Wer war dieser Mann, der vor der Tür hin und her schritt? Vor allem, was hatte er vor? Und mit wem?
„Sie werden sehen! Ich bin der RAC würdig!“, war das letzte, das sie hörten, bevor es still wurde.

„Ähm … wir …“, setzte Mona an, war sich jedoch unsicher, ob es schon sicher war, die Toilette zu verlassen.
Die beiden nickten sich zu und Mona betätigte den Türöffner. Vorsichtig schob sie ihre Freundin auf den leeren Flur hinaus. Leer, bis auf einen Mann, der an einem der großen Fenster stand und auf sein Handy starrte. Er trug heruntergekommene Kleidung und verlaufene Schminke, die an einen Clown erinnerte. Sein knalliges Kostüm stand im Kontrast zum Schneetreiben hinter ihm.
Er öffnete das Fenster und warf das Telefon hinaus.
Lisa rollte mit den Augen und winkte Mona zu sich herunter: „Meinst du, der Pseudo-Joker-Spinner-Typ da drüben war das eben?“
„Ich hoffe nicht …“, flüsterte Mona. Ihr Blick glitt erneut zu dem Cosplayer, der sie verwundert anschaute. Sie versuchte ihre Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen. Der andere reagierte nicht darauf.
„Lass uns abhauen …“, schlug Lisa knapp vor und sogleich setzten sie sich in Bewegung.
Sie hatten den Hauptsaal noch nicht wieder erreicht, als Mona sich unauffällig umdrehte. Tatsache, da war er, nur einige Meter hinter ihnen.
„Oh Gott, er verfolgt uns …“, verkündete sie ihrer Freundin verängstigt.
„Dann mach gefälligst schneller!“, befahl Lisa ungeduldig.
„Damit er denkt, wir laufen vor ihm weg? Sehr clever …“, widersprach Mona, beschleunigte ihre Schritte dennoch.
Schließlich kamen sie an der Stufe an, die sie in den nächsten Messe-Bereich führen würde. Mona stellte den Rollstuhl gerade an die Kante und trat beherzt auf den Fußhebel, um ihn anzuheben. Sie schaffte es nicht hoch genug. Daher versuchte sie es erneut. Die Räder verhakten sich.
„Dieses verkackte Drecksmist-Ding!“, fluchte sie und setzte zu einem weiteren Versuch an, wobei sie den Hebel vor Aufregung komplett verfehlte.
„Mach schon!“, drängte Lisa und versuchte an ihrer Freundin vorbei zu schielen.
„Sitz still, sonst wird das nie was!“, fuhr Mona sie an.
Der Rollstuhl wurde immer störrischer und mit einem Wutschrei ließ sie ihn los. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sie drehte sich um und erschrak. Der Joker stand direkt hinter ihr. Sie schrie auf und wich ein Stück zurück.
„Mona? Was ist los?“, fragte Lisa und versuchte erneut über ihre Schulter zu gucken.
„Na sieh mal einer an: Batgirl und Robin in Schwierigkeiten – was sonst“, begrüßte der Joker-Typ sie mit einem süffisanten Grinsen auf den schief geschminkten Lippen.
Ein kalter Schauer lief den beiden Frauen den Rücken hinab. Es war eindeutig die Stimme, die sie durch die Tür gehört hatten. Und er wusste offensichtlich Bescheid.

June Is (@ypical_writer) & Anne Zandt (randompoison.com)

 

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