Wenn jemand in der deutschen Gegenwartsliteratur fabulieren und Geschichten spinnen kann, dann Saša Stanišić, findet Worteweberin Annika, und war begeistert von seinen Erzählungen in „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“.
Wie wäre es, verschiedene Zukünfte anzuprobieren? Alternative Leben auszutesten wie in einer Umkleidekabine? Diese Idee entwickelt Fatih, ein Freund des Ich-Erzählers in der ersten Geschichte, und spannt damit den Rahmen für Stanišićs ganzen Erzählungsband. Darin geht es um Lebensentwürfe, Träume, Lügen, Erinnerungen und Möglichkeiten, jeweils aus anderen Perspektiven.
„Als wäre es einfach, aus einem Leben zu steigen und in ein anderes zu springen!“ (S. 38)
Dieser Themenstock verbindet die einzelnen Texte – im letzten Teil testen die Figuren der verschiedenen Erzählungen sogar alle Fathis „Umkleidekabine der Zukünfte“ aus. Dahinter liegen zudem oft Fragen nach Migration und sozialer Ungerechtigkeit, immer pointiert dargestellt und oft ad absurdum geführt: „Der Vater hatte in der Türkei etwas mit Büchern studiert, also fuhr er hier einen LKW.“
Was für ein Text!
Saša Stanišić wagt in seinen neuen Erzählungen ein kluges und lustvolles Spiel mit Metatextualität, Autofiktion und Fiktionalität. Auf die Spitze treibt er das in „Es pfeift der Wind bei hohler See…“, der Nacherzählung einer (erfundenen) Reise nach Helgoland aus der Sicht der autofiktionalen Figur Saša, die den Autor am laufenden Band für seinen Stil und die Logik der Erzählung kritisiert.
„Während die Wirtin den Tee zubereitet, sehe ich mich (auf Seite 11!) endlich ein wenig um im Krug. Das urige Interieur wird beschrieben, wobei der Autor hierfür Chat-GPT bemüht hat.“ (S. 107)
Diese Fiktion konstruiert sich um eine Urlaubslüge des jungen Saša gegenüber den Freunden: Aus Scham darüber, im Sommer nicht in den Urlaub zu fahren, erzählt er, er sei auf Helgoland gewesen und habe dort ein Abenteuer erlebt, „ich wollte jemand sein, der ein Kneipenschild geklaut hat.“ (S. 120) Aus der Lüge wird eine Geschichte, aus deren Autor eine Figur, das Ganze: ein großer Spaß! Gerade dieses spielerische Erzählen ist es, das mich so völlig begeistert hat.
Welcome back
Ein besonderes Herzstück in „Möchte die Witwe angesprochen werden…“ sind die Figuren. Sehr schnell sind sie uns Leser*innen nah, werden auch in den kurzen Texten plastisch durch die knappen, aber intensiven Einblicke in ihre Leben. Dank der gelungenen Komposition begegnen sie uns in späteren Erzählungen wieder, außerdem im von Fatih erfundenen Anproberaum der Zukünfte. Einige, wie Georg Horvath oder Mo, hat Stanišić zudem schon in seinem ersten Erzählungsband „Fallensteller“ eingeführt und nun in neue Situationen verfrachtet.
Nach dem Deutschen Buchpreis für „Herkunft“ und seinen gefeierten Kinderbüchern zeigt Saša Stanišić auch in „Möchte die Witwe angesprochen werden…“ wieder, was er kann: Geschichten erzählen, mit dem Herz auf der Zunge. Ein Meisterstück!
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Saša Stanišić. Luchterhand. 2024.
Mehr über Saša Stanišić im Bücherstadt Magazin:
- „Herkunft“
- Lesung aus „Herkunft“
- „Hey, hey, hey, Taxi!“
- „Vor dem Fest“
- Hörspielversion von „Vor dem Fest“
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