Die Liebe kann Grenzen überwinden, heißt es. Sie kann Kulturen verbinden und den Religionen trotzen. Es ist möglich, aber nicht einfach. Das zumindest zeigt uns Claire Hajaj in „Ismaels Orangen“ – eine Geschichte, die nicht nur lehrreich ist, sondern auch berührend. – Von Zeichensetzerin Alexa
Salim Al-Ismaeli ist der Sohn eines palästinensischen Orangenzüchters. Bei seiner Geburt wird ein Orangenbäumchen gepflanzt, welches er im Alter von sieben Jahren ernten könnte. Doch der Krieg vertreibt ihn und seine Familie, bevor er die erste Orange pflücken kann. Seitdem hegt Salim den Wunsch, eines Tages an den Ort zurückzukehren, an dem seine Familie gelebt hat.
„Die Erntezeit neigte sich dem Ende zu, und die Arbeiter seines Vaters hatten das Obst auf der Farm der Familie gepflückt – fünfzehn ganze Dunums, fünfzehtausend Quadratmeter gutes Orangenland. Er hatte es sich zum Geburtstag gewünscht, bei der Ernte mithelfen zu können: Er war jetzt sieben, und eines Tages würde er sich die Haine mit Hassan und Rafan teilen. Lass mich mitkommen, hatte er gebeten. Aber sein Vater hatte Nein gesagt, und Salim hatte zu seiner Schande geweint.“
Im Wechsel wird Salims Kindheit mit der von Judith erzählt, einer Tochter von Holocaust-Überlebenden. Während Salim seine Kultur ehrt, möchte Judith ihren eigenen Weg gehen und ihren Alltag selbst bestimmen. Jüdische Rituale sind ihr nicht wichtig, und warum sie sich stets an die Vergangenheit und den Krieg erinnern soll, kann sie auch nicht verstehen. Doch je älter sie wird, desto mehr beginnt sie ihre Herkunft zu schätzen.
Äußere und innere Einflüsse
Als sich Judith und Salim begegnen, glauben sie, jedem Hindernis trotzen zu können. Es vergeht eine Weile, bis sie sich ein Herz fassen und ihren Familien von ihrer Beziehung erzählen können. Dass diese alles andere als begeistert sind – sind es doch jene zwei Religionen, die sich seit jeher bekriegen – war zu erwarten. Doch Salim und Judith lassen sich nicht davon beirren. Seitdem scheint das Glück auf ihrer Seite: Sie heiraten, bekommen Kinder, Salim ist beruflich auf dem Weg ganz nach oben… Bis sein Bruder auftaucht und das Gleichgewicht beider Kulturen durcheinander bringt. Plötzlich legt Salim besonders viel Wert darauf, dass seine Kinder die Rituale seiner Religion durchführen, seine Kultur verstehen, seine Sprache erlernen. Judith würde ihnen nur „jüdische Flausen“ in den Kopf setzen.
Der Krieg zwischen Palästina und Israel ist auf einmal von außen nach drinnen gedrungen. Wo zuvor Behaglichkeit war, herrscht jetzt Missmut und Wut. War sich das Paar einst einig über die Erziehung der Kinder, verfällt es nun immer wieder in Streitigkeiten. Bildhaft beschreibt die Autorin den religiösen Konflikt, ohne dabei in Klischees zu verfallen. Es wird deutlich, dass äußere Einflüsse nicht ausgeschaltet werden können, dass die Herkunft ebenso eine Rolle spielt wie die Einstellung der Protagonisten. Geblendet von diesen Einflüssen, müssen sie sich nicht nur ihren inneren Konflikten stellen, sondern auch jenen, die vor der Tür lauern. Es geht um persönliche Identität, um eigene Wünsche und Bedürfnisse wie auch um die Frage, inwieweit man bereit ist, Kompromisse einzugehen.
Baustein einer Brücke
Die Sprache ist mal lebhaft, mal distanziert. Anfangs muss man sich an die fremdwirkenden Namen gewöhnen sowie an die arabischen und jüdischen Begrifflichkeiten. Während diese im Buch in einem Glossar erklärt werden, fehlt diese Beilage im Hörbuch. Doch diesen Mangel gleicht Sprecher Boris Aljinovic mit seiner Stimme aus: angenehm ruhig liest er die Geschichte, sodass man ihm auch über einen längeren Zeitraum lauschen kann.
„Ismaels Orangen“ ist zwar eine fiktive Geschichte, jedoch enthält sie auch autobiografische Elemente. Die Autorin, die 1973 in London geboren wurde, ist als Tochter eines Palästinensers und einer Jüdin groß geworden. Diese unterschiedlichen Kulturen versucht sie sowohl in der Realität als auch in der Literatur zu verbinden. „Niemand ist dazu verurteilt, ewig zu streiten. Jeder Krieg hat ein Ende. Davon bin ich zutiefst überzeugt“, sagt Claire Hajaj im Interview. Sie hofft, dass sie mit ihrem Buch einen Baustein einer Brücke bilden kann, „die eines Tages mehr Menschen verbindet“.
Ismaels Orangen. Claire Hajaj. Übersetzung: Karin Dufner. Sprecher: Boris Aljinovic. Random House Audio. 2015.
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