Alexandra Potters „Je größer der Dachschaden, desto besser die Aussicht“ ist ein erfrischend lebensbejahender Roman über das (unperfekte) Leben im Allgemeinen und das von Nell, einer Frau über 40, im Speziellen. Satzhüterin Pia hat mit dem amüsanten und durchaus klugen Buch einige kurzweilige Lesestunden verbracht.
Die Engländerin Penelope „Nell“ hat zehn Jahre in den USA gelebt und kehrt nun zurück – ihren Verlobten und ein gescheitertes Geschäft lässt sie in Übersee. Statt also zu heiraten, findet sie sich mit deprimierter Stimmung im grauen London wieder, sitzt plötzlich in ihrem alten Kinderzimmer, ist „auf der falschen Seite der vierzig“ und ach ja, pleite und kinderlos ist sie auch noch. Auf Anraten einer Freundin sucht sie sich ein Zimmer zur Untermiete und geht somit notgedrungen eine Wohngemeinschaft mit dem etwas speziell wirkenden Edward und seinem Hund Artus ein. Sie schafft es, sich einen Job als Nachrufschreiberin zuzulegen, kommt damit aber gerade so über die Runden. Ein Jahr lang begleiten wir Nell nun auf ihrem Weg zurück zu sich, weit entfernt von perfekten (Instagram-)Realitäten und dafür mit jeder Menge selbstkritischem und -ironischem Humor.
„Auf der falschen Seite der 40 – Bekenntnisse einer Versagerin“
Im Prolog lesen wir den Anfang der ersten Folge von Nells Podcast, den sie – am Tiefpunkt angelangt und von den ganzen perfekten Familien bei Instagram genervt – einzusprechen beginnt. Der Podcast wird danach über weite Strecken nur wenig thematisiert. Vermutlich hätte es sich mit der Geschichte doch zu sehr gedoppelt und wurde daher nicht eigens aufgegriffen. Trotzdem kam mir dies beim Lesen merkwürdig vor, nachdem das Buch doch mit ebenjenem Podcast begonnen hatte. Im späteren Verlauf wird das aber wieder wett gemacht, so viel kann man ohne Spoiler verraten.
Nell erzählt von ihrem Leben, mit all der Einsamkeit und auch Trauer, gescheiterten Plänen, Selbstzweifeln und allem voran erzählt sie auch von der Erwartungshaltung der Gesellschaft. Der Stil des Buches ist oft tagebuchartig und anfangs scheint der Detailreichtum abschreckend – mit 560 Seiten ist das Buch nicht eben schmal und droht sich in die Länge zu ziehen. Doch stattdessen ist eben dieser vermeintliche Detailreichtum genau der echt wirkende Einblick in die Entwicklung eines Menschen, der mit vielen Dingen hadert. Witzig ist auch ihre wiederkehrende Dankbarkeitsliste: Fünf Dinge zu finden, für die sie am Ende des Tages dankbar ist, stellt sich oft als Herausforderung heraus.
Humorvoll, aber nicht albern
Die Autorin Alexandra Potter schafft eine galante Gratwanderung: Das Buch ist oft witzig, gespickt mit der einen oder anderen komischen Situation, aber nie albern oder zu überspitzt. So oft die Protagonistin Nell ihrem (vermeintlich) kaputten Leben mit Humor begegnet, so oft gibt es doch auch sehr ernste Themen und Situationen, die die Alltagsszenen und kleinen oder größeren Katastrophen des echten Lebens nahbar machen.
Sicher richtet sich das Buch vornehmlich an Frauen, aber keinesfalls nur an welche über 40. Auch andere Altersgruppen können sich in Potters Worten wiederfinden. Das Buch ist durch die Hashtags zu Beginn eines neuen Monats – zum Beispiel #bikinikoerperundbabys – und durch verschiedene feministische Themen oder Sätze am sogenannten Zahn der Zeit. Nicht übermäßig hipp, aber eben so sehr, wie man sich jemanden dieses Jahrgangs vorstellt (zumindest was die Hashtags betrifft).
„Wo wir gerade dabei sind, weiß eigentlich irgendwer, warum wie nie von Karrieremännern sprechen?“ (S. 17)
Solche Sätze oder Situationen, wie die von Nell völlig irritationslos aufgenommene Nachricht einer Freundin, dass sie nun mit einer Frau liiert sei, geben einen angenehmen Wohlfühlfaktor. Akzeptanz, Gesellschaftskritik, „normale“ Probleme eines jeden Menschen, aber dennoch nicht zu banal. Es ist eine Geschichte für alle Menschen, die sich schon einmal in ihrem Leben an einem Punkt wiedergefunden haben, an dem sie nicht sagen konnten, wie sie ausgerechnet hier hingelangen konnten. Und vor allem für Menschen, die das Leben anderer als so viel schöner, leichter und zufriedener wahrnehmen als das eigene. Nell und ihre Freund:innen eröffnen da auf jeden Fall neue Perspektiven.
„Verstehen Sie, warum ich so sauer bin? Ständig heißt es: Sei du selbst, sei authentisch! Gleichzeitig wird erwartet, dass man dabei glücklich ist. Aber wenn man sich gerade gar nicht danach fühlt, ist das doch genau das Gegenteil davon, sich selbst treu zu sein.“ (S. 310)
Immer wieder werden wir Leser:innen angesprochen – aber ich wäre doch lieber geduzt worden. Das ist wohl so eine Sache beim Übersetzen … Nachdem ich durch den lustigen Titel angesprochen wurde, muss ich rückblickend zugeben, dass ich den deutschen Titel gar nicht mal so gelungen finde – das englische Original haut deutlich besser hin: „Confessions of a Forty Something F*** Up“.
Wer Lust auf eine kluge, aber nicht zu anspruchsvolle Lektüre hat, die einem das fehlbare Leben näherbringt und die eine oder andere Vorfreude auf das Leben über 40 weckt, ist mit Alexandra Potters Roman gut beraten. Der lockere Schreibstil, die sympathische und humorvolle Hauptfigur und die liebenswerten Nebenfiguren haben mir schnell gezeigt, dass dieses Buch viel mehr kann, als nur leichte Lektüre zu sein: es ist sozialkritisch, lebensnah und aktuell.
[tds_warning]Achtung Spoiler! Triggerwarnung: Fehlgeburt, Kinderlosigkeit[/tds_warning]
Je größer der Dachschaden, desto besser die Aussicht. Alexandra Potter. Übersetzung: Karolin Viseneber. Piper. 2020.
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