Der Struwwelpeter – wirklich veraltet?

von | 15.06.2017 | #litkinder, Bilderbücher, Buchpranger, Specials

Dieses Kinderbuch ist als Anleitung einer veralteten Pädagogik verschrien. Jedoch war es nie als solches gedacht; ganz im Gegenteil. Geschichtenerzähler Adrian hat sich mit dem berühmt-berüchtigten Struwwelpeter auseinandergesetzt und geguckt, was wirklich hinter diesem Werk von Heinrich Hoffmann steckt.

Der Struwwelpeter, wer kennt ihn nicht? Entstanden im Jahr 1844 durch den Arzt und Psychiater Dr. Heinrich Hoffmann, zeigt es in zehn humoristischen Gedichten und Geschichten was passiert, wenn Kinder nicht auf ihre Eltern hören oder unvorsichtig sind. Die Konsequenzen reichen von patschnass werden, bis hin zum Verbrennen durch das Spielen mit Feuer.

Was bis vor einigen Jahren noch als Beispiel oder gar Unterstützung veralteter Pädagogik galt, soll ursprünglich eine Karikatur dessen gewesen sein, was damals beim Thema Erziehung Gang und Gebe war – dies geht aus dem Nachwort des Autors selbst hervor. Daraus ist auch zu entnehmen, dass Dr. Hoffmann – welcher Arzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie war – diese Angstpädagogik ebenso anprangerte. Es erschwerte seine Arbeit als Kinderarzt weitestgehend, wenn Ärzte und Doktoren von den Eltern als etwas Schlechtes dargestellt wurden.

„Kind, wenn du zu viel davon isst, so kommt der Doktor und gibt dir bittere Arznei, oder setzt dir gar Blutegel an!“ Die verängstigen Kinder ließen sich dann kaum noch untersuchen. Wer noch nicht mit diesem Werk vertraut ist, oder seine Erinnerungen noch einmal auffrischen will, der findet das komplette Buch als PDF-Datei hier.

Wirklich veraltet oder doch noch aktuell?

Liest man sich einige Geschichten durch, so könnte man denken, dass sie immer noch eine gewisse Aktualität besitzen. Allein das Gedicht um den „Hans-guck-in-die-Luft“ sollte bei vielen die Bilder von Menschen ins Gedächtnis rufen, welche ununterbrochen auf ihr Smartphone starren. Allein die Blickrichtung ist anders. Eine beinah vergleichbare Geschichte ist wohl die von den beiden Pokémon-GO-Spielern, welche durch die Ablenkung sowie ihre Unachtsamkeit, wohin sie laufen, eine Klippe hinabstürzten. Diese beiden trugen jedoch einen größeren körperlichen Schaden davon, als nur komplett durchnässt zu werden.

Wo Hans wohl Symptome für ADS – Aufmerksamkeitsdefizit Syndrom – zeigt, kann auch ein Laie erkennen, dass der Protagonist aus dem Gedicht vom Zappel-Philipp wohl mit ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-hyperaktivitäts-Syndrom – gestraft ist. Am Ende landet der Junge, der ständig am Tisch herumzappelt, samt Speisen unter der Tischdecke. Da wünschte sich der Vater wohl auch eine Packung Ritalin – zumindest ist es heute die Antwort vieler Ärzte auf ein Verhalten gleich dem Zappel-Philipp.

Teilweise spielt Hoffmann auch einfach mit Karma, wie in der Geschichte um den „bösen Friederich“ zu sehen ist. Dieser prügelt auf alles ein, sei es die Mutter oder einen Hund. Wo die Mutter nachgibt, rächt sich der Hund und beißt seinem Peiniger ins Bein. Wenn diese Vorlage sich nicht perfekt für ein Meme à la „Karma is a B****!“ eignen würde. Ein gestörtes Aggressionsverhalten, wie es bei Friederich offensichtlich ist, ist auch heute keine Seltenheit, wie man etwa an Beispielen von U-Bahn-Schlägern sieht, welche scheinbar aus reiner Willkür handeln. Das Karma schlägt ebenso in „Die Geschichte vom wilden Jäger“ zurück. Ein Jägersmann will Hasen jagen gehen, doch als er sich zum Schlafen unter einen Baum legt, klaut ein Hase die Flinte des Jägers und so wird der Jäger zum Gejagten.

Wo man ebenfalls einen Vergleich zu aktuellen Lage sehen kann, ist in „Die traurige Geschichte mit dem Feuerzeug“ und dem wortwörtlichen Spiel mit dem Feuer. Hier spielt ein Mädchen mit Streichhölzern und trotz mehrfacher Warnung seitens der Katzen – „Und Minz und Maunz die Katzen, erheben ihre Tatzen. Sie drohen mit den Pfoten: „Der Vater hat‘s verboten. Miau! Mio! Miau! Mio! Lass stehen sonst brennst du lichterloh“ – lässt das Kind von diesem Spiel nicht ab und steckt sich selbst in Brand.

Vielleicht sieht man es schon als banal an, doch bei Rot über die Ampel zu gehen, lässt einen sprichwörtlich auch mit dem Feuer spielen. Als kleines Kind wird einem immer wieder gesagt, man solle nur bei Grün über die Ampel gehen und immer gut nach rechts und nach links gucken – verständlich. Bei Rot gehen, hat der „Vater“ verboten und es gibt auch viele „Minz“ und „Maunz“, welche dieses Verhalten immer wieder verurteilen. Hört man nicht darauf, liefert man sich dem Schicksal aus; geht das Streichholz vorher aus, oder brennt man lichterloh.

Entwarnung! … und ein Fazit

Nach all den recht zynischen Vergleichen, könnte man jetzt beinah sagen: „Oh, der Struwwelpeter ist aktuell wie nie.“ Jedoch glaube ich nicht, dass er heute ebenso polarisieren würde wie damals. Er würde wohl eher durch seine Political Incorrectness auffallen, als durch die Beispiele veralteter Erziehungsmethoden.

Wie man an den oben genannten Beispielen erkennen kann, hat Dr. Hoffmann einige der ihm aus dem Arbeitsalltag bekannten Diagnosen in seine Geschichten miteinfließen lassen. Viele dieser damals noch neuen und unerforschten Krankheiten sind heute ein Teil unserer Gesellschaft und können weitestgehend behandelt werden – wie etwa ADS und ADHS. So würde eine Geschichte wie die des Zappel-Philipp niemanden mehr wirklich schockieren und der Hans-guck-in-die-Luft ginge zwischen all den exzessiven Smartphone-Nutzern unter.

Der Struwwelpeter ist eine Schöpfung seiner Zeit und ebenso das Aufsehen, welches um ihn gemacht wurde – und noch wird. Er sollte nie als Erziehungshilfe fungieren. So sollte man ihn als das nehmen, was er ist: ein altes Bilderbuch, welches eher zum Betrachten und Diskutieren – dem Auseinandersetzen mit alter Pädagogik und der damaligen Generation – einlädt und das lange vor der Zeit von Political Correctness und der allwissenden Medizin erschienen ist. Die liebevollen Zeichnungen und die humoristische Dichtkunst sind nett anzusehen und zu lesen, sollten jedoch nicht zu ernst genommen werden. Jede Generation hat seine Erziehungsmethoden und vielleicht wird die unsere aktuelle in 150 Jahren als ebenso konfus und sonderbar wahrgenommen, wie wir die sehen, die uns im Struwwelpeter gezeigt wird.

Illustration (Kaktus): Buchstaplerin Maike

Ein Beitrag zum Projekt #litkinder. Hier findet ihr alle Beiträge.

Der Struwwelpeter (1844). Dr. Heinrich Hoffmann. Literarische Anstalt (später: Rütten & Loening). 

 

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