Die Schneeverwehten: Vom Verstummen der Erinnerungen (Teil 3)

von | 16.02.2021 | Kreativlabor

Ein Junge blieb hinter den anderen Schneeverwehten zurück. Als sie langsam von der Lichtung wieder in den Wald zogen, sich durch den Schnee pflügten, ging er weit hinter ihnen. Es war, als würde ihn etwas zurückhalten, als würde von der Lichtung, dem Punkt an der Spitze der Welt ein Klang ausgehen, den nur er hören konnte. Die anderen hatten diese zarten und reinen Töne vielleicht zuvor gehört, vergaßen die Bedeutung jedoch langsam. Sie kehrten zurück in eine Welt, die eine andere wurde, ohne jemals wieder an diesen Moment der letzten Dämmerung zu denken. Was ihnen blieb, nachdem die letzte Träne gefroren war und aller Schnee die Erde bedeckte, war dieses unbestimmbare Gefühl, dass etwas fehlte.

Als sich die Zurückgelassenen auf der großen Ebene vor dem Wald versammelten, hielt sich der Junge, der nicht vergessen hatte, am Rand. Sicher, auch er weinte, auch seine Haut färbte sich blau, auch sein Atem mischte sich mit dem Atem der Schneeverwehten. Nur zögernd ging er zu ihnen, als sie sich eng umschlungen von der letzten Wärme in ihren Körpern verabschiedeten. Er ging zu ihnen, doch fand ihren Rhythmus nicht.

Er verstand nicht, warum er sich den anderen nicht nahe fühlen konnte und rätselte lange, was an ihm anders war. Dennoch blieb er bei den Schneeverwehten sitzen und schwieg mit ihnen. Manchmal hörte er, wie sie von einem Früher sprachen und von Erinnerungen, die verblassten, bis die Vergangenheit nur noch ein vages Gefühl war.

Da wurde ihm bewusst: Er konnte sich erinnern.

Er wollte sich an seinen Erinnerungen festhalten. Also kniff er die Augen zusammen, um nichts zu verlieren.

Nur hin und wieder öffnete er seine Augen. Es war mehr ein Blinzeln, sodass es niemand bemerken konnte. Er beobachtete, wie einzelne ins ungewisse Weiß zogen, jeder für sich und immer in eine andere Himmelsrichtung, so als würde sich jeder nach einem anderen Stern richten. Er hörte, wie sich die übrigen beratschlagten. Sie fanden sich zu Gruppen zusammen: Einige gingen zurück in die Stadt, andere zogen auf der Suche nach einem neuen Sinn in die Welt, wieder andere erkannten keinen Sinn mehr und riefen das Recht des Stärkeren und das Gesetz der Jagd aus. Er war Zeuge, als sich einige von ihnen im Schnee eingruben und verschwanden.

Schließlich blieb er als Einziger zurück. In all der Zeit hatte er sich nicht bewegt und seine Augen fast immer geschlossen gehalten, um nichts zu vergessen: den leuchtenden Kreis am Himmel, das warme Gefühl auf der Haut, die Kraft. Er fragte sich voller Angst: Was würde aus ihnen werden, wenn sie vergessen würden, was Wärme bedeutet?

Irgendwann befürchtete er, dass auch er vergessen könnte und er strengte sich noch mehr an, konzentrierte sich so stark auf die Bilder und Empfindungen, dass der Schnee um ihn herum zu schmelzen begann. Doch er merkte bald, dass er es nicht alleine schaffen würde. Er brauchte jemanden, der ihm helfen konnte, die Kraft aufzubringen, nicht zu vergessen. Jemanden, für den er sich erinnern konnte, dem er diese Geschichten erzählen konnte.

Da bewegte er sich. Nach einer Ewigkeit machte er einen Schritt vorwärts. Er kämpfte sich aus der Schneewehe hervor, die sich wie ein Kokon um ihn gelegt hatte und deren Kälte er schon nicht mehr gespürt hatte, bis er auf ihr stand.

Er sah sich um, blickte in den Himmel voller Sterne, deren sanftes Licht die Schneedecke glitzern ließ, und versuchte eine Richtung zu erkennen. Obwohl es ihm nicht gelang, sich zu orientieren, machte er einen weiteren Schritt. Und dann noch einen, sicherer diesmal. Und so beschleunigte er sein Tempo und rannte. Er lief und lief, durchmaß die zugeschneite Welt mit langen Schritten, bis er stürzte und einschlief, geschützt von seiner Haut, die der Kälte gegenüber unempfindlich geworden war und von der Wärme der verlorenen Sonne träumte.

Als er aufwachte, stopfte er sich gegen das Gefühl von Hunger und Durst etwas Schnee in den Mund. Seine gefrorenen Zähne zermahlten das Eis zu einer unterschiedslosen Masse. Er stand auf und setzte weiter einen Schritt vor den anderen. Immer schneller, bis er wieder rannte und wieder stürzte.

Er hatte kein Ziel vor Augen, wusste nur, dass er noch nicht angekommen war und weiterlaufen musste.

Manchmal sah er Gruppen von Schneeverwehten, die mal mit Speeren, mal mit Messgeräten durch die Welt zogen. Er hielt sich fern von ihnen, wechselte die Richtung, sobald er sie erblickte. Denn auch bei ihnen würde er sein Ziel nicht finden. Also lief er weiter.

Wenn er einzelne Wanderer sah, verlangsamte er seinen Schritt. Er trabte näher an sie heran, bis er erkannte, dass sie sich nicht zu ihm umdrehten, sondern den Blick auf einen fernen Punkt gerichtet hielten. Sie hatten ihr eigenes Ziel; es war nicht seines.

Seine Beine verfielen dann wieder in einen Laufschritt. Nur die Müdigkeit konnte ihn stoppen und selbst dann lief er in seinem Inneren weiter. In seinen Träumen raschelte das Gras unter seinen Füßen und warmes Licht schien auf seinen Rücken. Sobald er aufwachte, rappelte er sich auf und lief als hätte er nie aufgehört, unklar, ob er dem Erinnern entgegen oder dem Vergessen davonlief.

Er rannte ein weiteres Äon durch die schneebedeckte Nacht – bis er am Horizont einen anderen Jungen sah, der wie er anders war als die Menschen, die er auf seinem Lauf bisher gesehen hatte.

In der Stadt der Bewahrer lebte ein seltsamer Junge. Manche meinten, er wäre der jüngste der Zurückgelassenen. Doch was zählte Alter in einer Gesellschaft, in der keine Zeit mehr verging? Das war allerdings nicht der Grund, warum er auffiel. Das Problem mit ihm war, dass er sich nicht anpasste. Die Bewahrer versuchten, ein Leben zu führen, das sich nicht von dem unterschied, wie es die Menschen vor dem langen Schneefall geführt hatten – soweit sie sich daran erinnern konnten. Der Junge jedoch wanderte durch die verschneiten Straßen, ohne Ziel, ohne sich jemals eine Heimstatt zu suchen. Er übernahm keine Aufgaben, nicht die Wache an der reparierten Turmuhr, die den Stadtbewohnern in der ewigen Nacht das Gefühl von Zeit zurückgab, und auch nicht das Verteilen der Lebensmittel. Dabei war es für die Bewahrer unerlässlich, einer Arbeit nachzugehen. Anders konnte man kein Teil ihrer Gesellschaft sein.

Der seltsame Junge redete zu viel. Der Schnee überdeckte die meisten Geräusche. Deswegen beschränkten viele der Zurückgelassenen ihr Sprechen und redeten nur, wenn es nötig war in kurzen Sätzen voller abgehackter Worte. Doch der seltsame Junge hörte nicht auf, Fragen zu stellen. Er las von vergangenen Zeiten, von der Sonne. Er fragte immer wieder, was passiert war und was sich geändert hatte.

Die Bewahrer ließen ihn lange Zeit in Ruhe. Sie sagten sich, dass er noch jung sei und dass er schon noch verstehen würde. Die meisten gingen ihm aus dem Weg. Manche schauten ihn auch mit einem bösen Blick an oder schüttelten missbilligend die Köpfe.

Doch der Junge hörte nicht auf, sich zu wundern und seine Fragen wurden ihnen immer unerträglicher. Wenn die Bewahrer einander trafen, bei der Lebensmittelausgabe oder während ihrer Dienste, redeten sie von ihm. Mit einem gewissen Ausdruck in der Stimme, der mehr sagte als die Worte.

– „schaut‘n‘himml. stundlang.“

Die Bewahrer redeten nur selten, sprachen nur leise mit einer vom Eis aufgekratzten Stimme.

– sprach’n‘fremden.

– von bib‘thek?

– mhm.

– besser. fragt‘e uns nich.

– trr! neu’ideen. kann‘ni brauch‘n.

– hm.

Einmal begleitete der Junge, die Bürgermeisterin der Bewahrer zu ihrem Zuhause. Sie schwiegen die meiste Zeit, doch hin und wieder stellte der Junge seine Fragen. Er erzählte, dass er von der Sonne gelesen hatte. Konnte sich die Frau noch daran erinnern? Konnte sie ihr Leuchten beschreiben? Warum war sie verschwunden?

In diesem Moment wurde der Bürgermeisterin klar, dass diese Wissbegier in der Stadt störte und der Junge gehen musste. Immerhin war man hier zusammengekommen, um in Ruhe weiterzuleben, um nicht über die Kälte nachzudenken.

Die Bürgermeisterin ging zu den Bewohnern der Stadt und sprach mit ihnen über ihr Vorhaben.

junge?

fragte sie die Bewahrer.

redet. z’viel!

sagten einige.

verrückt’hier. wegen’m.

sagten andere.

ts’aussehen. passt’ni’her!

sagten noch andere.

Die Gründe waren der Bürgermeisterin egal. Wichtig war, dass sich alle einig waren.

Sie brachten den Jungen an die Grenze der Stadt. Mit einem lauten Klacken zwischen den beiden Worten, das die Welt entzwei reißen könnte, stellten sie ihn vor die Wahl: schweig’n / geh’n. Er entschied, die Stadt der Bewahrer zu verlassen.

Er wanderte durch die Stadt der Hedonisten. Er sah die Leichen und beobachtete die Feier, die schon viel Kraft verloren hatte.

Er verließ die Stadt und ging in die Wälder, wo er die Jäger, die Clans, die Rationalisten beobachtete, doch zu viel Angst hatte, ihnen nahezukommen.

Er ging weiter, schob Fuß vor Fuß.

Als er noch in der Stadt der Bewahrer gelebt hatte, hatten ihm die einsamen Wanderer vieles erzählt. Von Wissenschaftlern, die erforschten, was aus der Welt geworden war. Von Priestern, die eine Sonne anbeteten, die vor so langer Zeit verschwunden war, dass kaum einer mit Sicherheit sagen konnte, ob es sie wirklich gegeben hatte. Er hatte gelegentlich daran gedacht, loszuziehen und diese Menschen zu suchen, sie all die Fragen zu fragen, deren Antworten er suchte. Doch nun hatten sich die Fragen vermehrt. Er wusste nicht mehr, wohin er gehen sollte, wie schnell oder langsam. Sollte er sich treiben lassen oder auf ein Ziel zugehen? Hatte er noch ein Ziel, nun, wo er keine Vergangenheit mehr hatte?

Also ging er einfach, immer geradeaus, bis er den Wald hinter sich gelassen hatte. Seine Schritte waren klein und bedächtig. Er beobachtete, wie die Sterne am Himmel entlang zogen. Manchmal lächelte er, wenn er einen besonders hellen Stern wiederentdeckte, hob seinen Kopf, wie um einen Bekannten zu grüßen, den man aus der Ferne liebt. Er hörte bald auf, sein Lächeln zu zählen und ging weiter. Schritt für Schritt schleppte er sich durch den Schnee, der sich jahrzehnteweit vor ihm ausbreitete, menschenleer.

Doch dann – sein Sternenfreund war gerade verschwunden – erblickte er eine Gestalt am Horizont, die sich schnell näherte. Er überlegte noch, was er nun tun sollte, da stand die Gestalt vor ihm, einen Atemzug entfernt. Sie schauten sich lange in die Augen. Sie wagten nicht zu blinzeln, bis Eisblumen auf der Iris ihre Sicht trübte. Sie summten kurz, denn sie wollten etwas sagen und konnten es nicht: Der eine konnte sich kaum noch an die Sprache erinnern; der andere konnte nicht vergessen, dass Reden einen Preis hatte.

Text: Thilo Sauer
Illustration: Seitenkünstler Aaron
Thilo Sauer

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