Stefan Zweigs Erinnerungen an ein vereintes Europa hat Bücherstädterin Zarah schon oft empfohlen, verliehen und verschenkt. In Zeiten, die den Nationalismus immer stärker aufleben lassen, greift sie öfter denn je erneut zur ansteckenden Lektüre: Zweig macht Lust auf Europa, aber so richtig!
„Erinnerungen eines Europäers“ ist der Untertitel von Stefan Zweigs Werk „Die Welt von Gestern“. Treffender könnte gar nicht genannt werden, was für ein Buch das ist und vor allem, wie wichtig es ist. Von Beginn an leise und bescheiden, aber nie zurückhaltend erzählt Zweig, einer der berühmtesten Schriftsteller Österreichs, seine Biografie. Wie er aufwuchs im kultivierten Wiener Großbürgertum kurz vor der Jahrhundertwende und mit seinen Schulfreunden*innen versuchte, einen Platz in der Erwachsenenwelt zu finden und respektiert zu werden. Wie er in seiner Jugend jegliche Kunst verschlang. Ob Schriftsteller*innen, Künstler*innen, Schauspieler*innen oder Philosophen*innen, sie alle wurde von Zweigs Generation verehrt, jegliche Neuerscheinungen aufgesogen; alles war wichtiger als Schule, die Individualismus nicht zuließ.
Mit Liebe zum Detail berichtet Zweig von den kleinen Anekdoten und den großen Zusammenhängen, die seine Welt damals prägten. Die große Begeisterung, von der sich alle mitreißen ließen, der Enthusiasmus für die Kunst der Zeit schwingt sich durch die Schulbänke hindurch bis in die Universität hinein.
Ein Pazifist im Weltkrieg
Zweig beginnt, Philosophie zu studieren, weiß allerdings von vorneherein, dass er nur wenige Vorlesungen besuchen wird und die Zeit lieber nutzt, um sich weiter seinen persönlichen Studien der Zeitgeschichte zu widmen. Und vor allem: um zu schreiben. Ungewöhnlich schnell ist ihm Erfolg beschieden: Naiv reicht er seine Gedichtbände oder Aufsätze bei großen Zeitungen ein und stößt überall auf positiven Zuspruch. Hier tut sich bereits die Dimension seiner Karriere weit auf.
Das Autobiografische tritt dennoch an allen Stellen in den Hintergrund. Vielmehr geht es hier um das Bild einer Generation, um eine Welt, die längst verflossen ist und die es so nicht mehr gibt. Das Wien der Jahrhundertwende, Zeitalter der Sicherheit, in dem der eigene Stand, Etikette und Umgang übertrieben wichtig waren, mündet nur kurze Zeit später in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Der Erste Weltkrieg bricht herein. Fernab von den Fakten schafft Zweig eine Atmosphäre, die die allgemeine Kriegsversessenheit, die regelrechte Todessehnsucht Europas zu diesem Zeitpunkt verständlicher macht. Zunächst lässt er sich davon anstecken, wird dann aber zu einem der größten Pazifisten seiner Zeit und versucht die europäische Verständigung anzutreiben und, vor allem in der Schweiz, den Kontakt zu seinen europäischen Bekannten aufrechtzuerhalten und zumindest in dieser Hinsicht eine Einigkeit zu bewahren. All diese Menschen kennt Zweig durch seine zahlreichen Reisen, die ihn teilweise sogar aus Europa herausführen.
Die Bedeutung Europas
Das Buch ist aus dem Exil geschrieben. Stefan Zweig lässt seine Lebensjahre Revue passieren zu einer Zeit, in der sich niemand mehr traut, seinen Namen in den Mund zu nehmen, und seine Bücher verboten sind. Kurze Zeit später wird er sich gemeinsam mit seiner Frau umbringen, trotz materiellen Wohlstands im brasilianischen Exil. Zu sehr fehlt die Heimat, zu verloren ist das Europa, das er kennengelernt hat. Die kleinen Geschichten sind Erinnerungen an eine Welt von gestern, die nicht mehr existiert.
Nicht durch Zufall nennt sich Stefan Zweig in seinem Untertitel Europäer. Es sind die Erinnerungen von jemanden, der den europäischen Zusammenhalt als äußerst wichtig und sich selbst nicht unbedingt als Wiener oder Österreicher, sondern als Europäer wahrgenommen hat – und das mitten in einer Zeit des Nationalismus. Dass es heute wichtig ist, sich zu erinnern und diese Erinnerungen auch aus europäischer Perspektive geschehen zu lassen, wird unumgänglich durch die Tatsache, dass unsere Kultur auf Geschichte basiert. Es ist notwendig, ein Bewusstsein zu schaffen. Eine Zeit kann nicht nur durch ihre geschichtlichen Fakten, sondern noch viel mehr durch sie prägende menschlichen Geschichten begriffen werden.
Eintauchen in eine vergangene Welt
Dazu verhilft Stefan Zweig mit seiner Autobiografie, die gleichzeitig auch das Bild einer Epoche ist. Wer sie liest, erfährt zwar etwas über die Eckdaten seines Lebens. Im Vordergrund stehen aber die kleinen Details, die das Leben in Wien und Europa ausgemacht haben, und die großen Zusammenhänge, die sich vor allem durch Zweigs viele Gespräche mit seinen Freundschaften, bekannte Zeitzeug*innen, ergeben. Damit schafft er es, den Charakter seiner Epoche genau aufzuzeichnen.
Er nimmt die Lesenden an die Hand und führt sie über die Wiener Ringstraße, ins Theater, in berühmte Ateliers und gleichzeitig auch hinaus in die Welt – nach Indien, Amerika, Brasilien oder die im Krieg neutrale Schweiz, in der sich die Intellektuellen noch gemeinsam in Cafés treffen und für eine bessere Welt kämpfen können. Dieses An-die-Hand-Nehmen funktioniert vor allem deshalb so gut, weil sich in jedem von Zweigs Worten seine Schreibfreude widerspiegelt, seine Lust darauf, Geschichten zu erzählen, und vor allem, noch viel dringender, die unbedingte Notwendigkeit zu schreiben. Impulsiv und liebevoll berichtet er von einer Zeit, in der nichts wirklich liebevoll war, von einem durch Krisen geschüttelten Europa, das sich vollkommen verliert und untergeht.
Es sind die einzelnen Menschen, die den Lebenswert schaffen und die Zweig mit genauester Beobachtungsgabe sanft charakterisiert. Nahezu jede bekannte intellektuelle Person kommt vor: von Schnitzler zu Rilke über Rolland, Gorki, Freud, Joyce und Verhaeren. Sie alle haben die Epoche geprägt und werden mit einer persönlichen Nähe herangebracht; genauso ihre Kultur und das Wien, das Europa um 1900 bis zum Zweiten Weltkrieg. Darin liegt die Wichtigkeit, die Dringlichkeit dieses Buches. Es ist ein Plädoyer für ein verbundenes Europa, für den Frieden. Und es zeigt einmal mehr, wie richtungsweisend Stefan Zweig war; es ermuntert zur Wachsamkeit, hat bis heute nicht an Bedeutung verloren und ist gerade in diesen Zeiten wichtiger denn je.
Die Welt von Gestern. Stefan Zweig. S. Fischer Verlag. 2017.
[tds_note]Mehr zu Stefan Zweig:
- Rezension zu „Die Schachnovelle“
- Rezension zu „Rausch der Verwandlung“[/tds_note]
Ich habe schon viel Positives über dieses Buch gehört und werde es mir jetzt sobald als möglich zulegen. Vielen Dank für die tolle Rezension!