Ein Roman über Körper, Kontrolle, Weiblichkeit, Gewalt und kulturelle Engen, der Ländergrenzen überschreitet und zu einer schlagkräftigen Abhandlung dessen führt, was es bedeutet, eine Frau zu sein: Han Kang, Trägerin des Literaturnobelpreises und eine der bedeutendsten Stimmen Südkoreas, seziert in „Die Vegetarierin“ die komplexen Auswirkungen der Entscheidung einer Frau, von nun an vegetarisch zu leben. Bücherstädterin Andrea hat sich auf die Reise einer Figur begeben, die versucht, durch ihr Schweigen laut zu werden, und musste dabei erst lernen, mit ihrer eigenen Wut und Ratlosigkeit auf die Hauptfigur umzugehen.
Drei Perspektiven – keine davon gehört der Vegetarierin
Als Yeong-hye von einem Tag auf den anderen beschließt, kein Fleisch mehr zu essen, ist ihr Umfeld entsetzt. Allen voran ihr Ehemann, aus dessen Perspektive wir seine Frau zuerst kennenlernen und der kein gutes Wort für jene Frau finden kann, die ihm jeden Morgen, Mittag und Abend das Essen auf den Tisch stellt.
Auf ihre Entscheidung folgt Wut, Unverständnis und Sorge – besonders, als sich ihre Ernährungsumstellung in einen regelrechten Hungerstreik verwandelt. All das wird jedoch nie aus ihrer Perspektive geschildert, wie man es bei solch einer Thematik vielleicht vermuten würde. Zuerst durch die Perspektive des wütenden Ehemanns. Dann durch ihren Schwager, der sie zu seiner ganz persönlichen Muse hin stilisiert, ohne davor zurückzuschrecken, sie im Zuge dessen zu sexualisieren und für seine künstlerischen Visionen zu benutzen. Und schlussendlich durch die Perspektive der besorgten Schwester, die alles im Griff zu haben scheint, bis sie sich selbst in Yeong-hyes Leiden wiederfinden kann.
Literatur, die einem mehr abverlangt als nur Erschütterung
Trotz der einfachen Sprache richtet sich das Werk an ein eher intellektuelles Publikum und schränkt damit den Zugang zum Thema zumindest inhaltlich etwas ein. Ein Verständnis für die Thematik, das über Beklommenheit, Unverständnis und Überforderung damit, „was das alles nun sollte“, hinausgeht, bleibt ohne tiefere Auseinandersetzung mit den Intentionen der Autorin aus. Im Dialog mit anderen Lesenden ergab sich für mich folgendes Bild: Ohne das Lesen von Fachmeinungen und diversen Interpretationen, hätten viele nicht verstanden, dass es darum geht, aufzuzeigen, wie die Menschen in ihrem Umfeld auf unterschiedliche und komplexe Weisen auf Yeong-hyes stillen Protest reagieren. Dieser Umstand kann jedoch als das gesehen werden, wozu große Literatur unter anderem veranlassen sollte: Austausch und weitere Auseinandersetzung mit der Thematik.
Die Lesenden werden mit ihren eigenen Deutungssystemen konfrontiert
Han Kang gelingt dabei etwas Perfides: Sie erzeugt Emotionen, für die wir uns sonst womöglich schämen. Durch die Perspektive der hauptsächlich männlichen Charaktere auf eine leidende Frau erwischt man sich selbst irgendwann dabei, mit Wut und Unverständnis auf die Frau zu blicken. Man will schreien: Aber was denkt Yeong-hye eigentlich dazu? Warum tut sie das? Ihr Handeln bekommen wir dadurch nur aus Perspektiven der Selbstsucht, männlicher Erregung und Unverständnis geschildert, wodurch es Han Kang tatsächlich gelingt, der lesenden Person vorzuführen, wie sehr sie selbst Teil gesellschaftlicher Deutungssysteme ist.
Wenn man sich also nachträglich noch mit dem Werk beschäftigt, kommt die Vielschichtigkeit und Tragweite der Erzählung deutlicher zum Vorschein und man versteht, warum die Autorin den Literaturnobelpreis gewonnen hat. Viele wichtige Themen werden darin verarbeitet: Was es heißt, eine Frau zu sein, und wie die Gesellschaft darauf reagiert, wenn diese Frauen plötzlich nicht mehr den engen Mustern folgen, die für sie vorgesehen sind.
Die Vegetarierin. Han Kang. Aufbau Verlag. 2016.
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