Feiert man in Russland Weihnachten an Silvester?

von | 28.12.2014 | Gedankenkrümel, Kreativlabor

Viele Europäer fragen sich: Warum hat Silvester in Russland weihnachtliche Traditionen und Bräuche – den Tannenbaum, die Bescherung, den Weihnachtsmann? Der Grund dafür sind historische Ereignisse. Bücherstädterin Tanja weiß mehr.

Nach dem ersten Weltkrieg und nach der Revolution 1918 wurden durch die gewaltsame Machtübernahme durch die kommunistischen Bolschewiken alle religiösen Feste und Feiern und damit verbundene Bräuche und Traditionen gänzlich verboten. Mit der Zeit hat man jedoch etwas zurückgerudert, um den Menschen in ihrem schweren Leben eine Freude zu bereiten. Von der Wiedererstehung der Religion war dabei natürlich keine Rede, es wurden lediglich ein paar weihnachtliche Bräuche, wie geschmückter Tannenbaum, Bescherung der Kinder durch den Weihnachtsmann mit seinem Schneemädchen, erlaubt. Das alles aber ohne einen Funken religiöser Hintergedanken und bitte zum Neujahrsfest.
So wurde 1935 aus einem Weihnachtsbaum ein Neujahrstannenbaum. Er wurde in Russland oft schon ein paar Tage vor dem Silvester-Abend geschmückt. Die Spitze des Tannenbaumes schmückte nun anstatt des achteckigen Bethlehem-Sternes der fünfeckige rote Kreml-Stern. Beim Tannenbaumschmuck wurden die Engel und Jesus-Figuren durch Raketen, Häschen und Bärchen ersetzt.

Aus dem heiligen Nikolaus, der bisher die Geschenke den Kindern brachte, wurde Ded Moroz (Väterchen Frost), der den Opa aller Kinder im Lande symbolisierte und am 31. Dezember die Geschenke brachte. Er trug einen langen hellblauen (mittlerweile einen roten) Mantel mit Pelzkragen, einen breiten Gürtel und eine typisch russische Pelzmütze. Ein dicker Eiszapfen diente ihm als Wander- und Zauberstab. Das russische Väterchen Frost reiste aus Sibirien in einer schicken Pferdetroika an, in Begleitung seiner hübschen Enkelin Snegurotschka, die auf Deutsch übersetzt Schneemädchen bedeutet.
Die russische Snegurotschka war einmalig. Kein anderer Weihnachtsmann der Welt hatte so eine Schönheit an seiner Seite. Sie ist kein kleines Mädchen, sondern eine junge Frau, symbolisiert das zum Eis gewordene Wasser und ist mit ihrer Schönheit und Herzlichkeit ein Vorbild für jedes kleine Mädchen. Traditionell trug sie einen weißen oder hell blauen mit Perlen und silbernen Fäden bestickten Mantel. Den Kopf schmückte ein kleines Krönchen oder eine Mütze mit Pelzrand. Ihr langes blondes Haar war zu einem festen Zopf geflochten. Meistens reiste sie zuerst an und kündigte die Ankunft von Ded Moroz an. Für die Neujahrs-Feier, die überall in russischen Schulen, Kindergärten und Konzerthallen veranstaltet wurden, verkleideten sich Kinder gerne als Schneeflocken, Häschen oder Bärchen – ähnlich wie an Karneval. Alle versammelten sich um den Weihnachtsbaum und riefen drei Mal laut nach Väterchen Frost, der dann kam und für jeden die Geschenke brachte. Die Kinder mussten noch eventuell bestimmte Aufgaben erfüllen (Gedichte aufsagen, singen, tanzen, etc.), um ihre Geschenke zu verdienen. Oft waren es Obst, Mandarinen und Süßigkeiten. Früher gab es in Russland nur kurz vor Silvester Mandarinen und sie waren sehr beliebt!
Den Silvester-Abend verbrachten viele russische Familien zu Hause mit Freunden und Verwandten an einem reich gedeckten Tisch. Die Tafel zerbrach fast unter diversen Salaten, Vor- und Hauptspeisen sowie süßen Leckereien. Als Vorspeise wurden oft Delikatessen wie zum Beispiel Lachs oder Kaviar serviert. Um Mitternacht ließ man in Russland die Korken knallen und begrüßte das neue Jahr mit einem Glas Sekt und großem Feuerwerk. Es heißt ja in Russland: „Wie du das Neujahr begrüßt (feierst) – so lebst du das ganze Jahr.“ Nach Mitternacht ging die Silvester-Party mit Singen, Tanzen und nicht zuletzt Trinken in Russland richtig los.
Das Neujahr und die Feier dazu wurden zum Symbol der Unverletzlichkeit der Familie, zum Familienfest und zum Versprechen schöner und besserer Zukunft.

Erst nach vielen Jahrzehnten des Religionsverbotes darf Weihnachten in Russland nun als großes religiöses Fest gefeiert werden. Allerdings liegen der Heiligabend und die gesamten Weihnachtstage am 6. Januar und an den darauf folgenden Tagen, da die russisch-orthodoxe Kirche immer noch nach dem alten julianischen Kalender rechnet. Es werden lange feierliche Gottesdienste zelebriert, zu denen natürlich wunderschöne Weihnachtsgesänge und Kanons gehören.

Leider kann ich zum russischen Weihnachten der orthodoxen Kirche nichts aus der ersten Hand berichten, da ich schon seit 1995 in Deutschland lebe und russisches Weihnachten nie erlebt habe. Als Deutsche aus Russland mit deutschen Urvätern, die im 18. Jahrhundert nach Russland aussiedelten, kann ich mich aber an einige Momente aus meiner Kindheit erinnern. Ich weiß noch, dass wir immer schon am 24. Dezember den Tannenbaum in der Stube aufgestellt und geschmückt hatten – zur Verwunderung der Nachbarn. Und dass mein Bruder und ich an dem Abend oder früh am Morgen fast schon heimlich kleine Geschenke bekamen. Meine Mutter sagte: „Heute ist Weihnachten, darum hat das Christkindchen die Geschenke gebracht. Es muss so sein.“ Ich habe es damals nicht hinterfragt, habe mich als Kind einfach über die zusätzlichen Geschenke noch vor dem Neujahrsfest gefreut. Jetzt verstehe ich aber, dass sie aus Angst vor Repressionen nicht mehr getan und erzählt hat zum schönsten Fest des Jahres. Aber auch für diesen Funken alter Traditionen, die sie versucht hat, weiterzugeben, bin ich ihr sehr dankbar.

Foto: Lara
Ein Beitrag zum Leseprojekt “Russische Literatur”.

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