BIG BROTHER IS WATCHING YOU

von | 23.04.2021 | Auditorium, Hörbücher

George Orwells Romane „1984“ und „Farm der Tiere“ gehören zu den meistgelesenen Büchern des 20. Jahrhunderts. Eine moderne Neuübersetzung der jeweiligen Romane wurde nun von Christoph Maria Herbst stimmungsvoll eingelesen. Satzhüterin Pia hat nach „Farm der Tiere“ nun „1984“ gehört und ist sich in einem sicher: Das Vorwort hat Habeck versemmelt.

Der Enddreißiger Winston Smith lebt in einem totalitären System, das seinesgleichen sucht: Es gibt keinerlei Privatsphäre, stattdessen herrscht Überwachung und Kontrolle – immer und überall. Teleschirme überwachen die Menschen im eigenen Zuhause, jeder Nachbar ist grundsätzlich ein potenzieller Spitzel, die Kollegin möglicherweise bei der Gedankenpolizei, Neusprech gibt vor, wie dein Wortschatz auszusehen hat und das kryptische Doppeldenk ist die Voraussetzung für ein Funktionieren dieses Regimes. Kurz: Es muss schlichtweg widerspruchslos alles geglaubt werden, was die Partei vorgibt.

„Es war ein heller, kalter Apriltag. Die Uhren schlugen dreizehnmal.“

Winston arbeitet im Ministerium für Wahrheit und seine Arbeit besteht im Grunde darin, die Geschichte umzuschreiben, sobald die Partei dies für notwendig erachtet. Gestern noch im Krieg mit Eurasien, kann die heutige Wahrheit schon sein, dass Ozeanien sich im Krieg mit Ostasien befindet. Und alle Zeugen der Vergangenheit müssen diese Wahrheit stützen – Zeitungen, Bücher, jegliche Meldung. Schon lange befindet sich Winston innerlich im Widerstand mit dem totalitären System und Leserinnen und Leser – oder hier Hörerinnen und Hörer – verfolgen in „1984“ seinen Alltag in diesem dystopischen Überwachungsstaat, seinen Weg in den inneren und schließlich auch den äußeren Widerstand. Am Ende kann das alles nicht gut ausgehen: Winston wird gefangen genommen, gefoltert, einer Gehirnwäsche unterzogen und … letztendlich gewinnt die Partei.

„Ansichten über Wahrheit“

Zurück bleibt bei uns Zuhörenden ein schales und beklemmendes Gefühl. Auch nach über 70 Jahren, die seit der Erstveröffentlichung von Orwells Dystopie vergangen sind, vermag das Buch einen solchen Effekt zu haben und das ist letztendlich gut so, heißt dies immerhin, dass uns ein derartiger Überwachungsstaat sehr fremd ist. Anders scheint das Robert Habeck zu sehen. Der Politiker (Bündnis 90/Die Grünen) und Schriftsteller hat für die Neuübersetzung ein Vorwort unter dem Titel „Ansichten über Wahrheit“ verfasst und für die Hörbuchfassung selbst eingelesen. Mit Ruhm bekleckert hat er sich mit diesem Vorwort weder als Politiker noch als Schriftsteller. „1984“ ist von Beginn an als politische Parabel abgestempelt worden und wurde selten literarisch wertgeschätzt. Mit der neuen Übersetzung von Lutz-W. Wolff hätte dies nachgeholt werden können, stattdessen aber schreibt im Superwahljahr ein Politiker das „Vorwort“ für diesen Roman – und das versemmelt er so richtig.

Ein Orwellscher Albtraum

Im Mittelpunkt der Neuübersetzung sollte ebendiese stehen. In einer Rezension über das Hörbuch, gelesen von Christoph Maria Herbst, ebendieses. Beides ist gelungen, keine Frage. Aber bevor man zu dem Hörbuch gelangt, muss man als Hörerin oder Hörer am Türsteher Habeck vorbei und dessen Worte wirken lassen. Ich versuche kurz zu umreißen, was das Problem an diesem Vorwort ist:

Habeck verliert keine Zeit und steigt damit ein, dass Orwell „der Analytiker des Totalitarismus“ sei und ignoriert dabei geflissentlich, dass das gar nicht wahr ist. Orwell hat nichts analysiert, sondern imaginiert, schriftstellerisch aufgearbeitet und überspitzt. Letztendlich scheint Habeck das Vorwort für diesen Roman dazu zu dienen, mit allem abzurechnen, für das er nicht stehen will und sich selbst dabei komplett außen vor zu lassen. Aber am Ende wird er in nichts wirklich konkret. Im Grunde ist sein Vorwort ein Wirrwarr an kritischer Betrachtung allerlei aktueller Geschehnisse, für die er Orwells Roman instrumentalisiert.

Ein Griff ins Klo

China und technische Entwicklungen halten beim Thema Überwachung her und mit der AfD hat er seine perfekte Allegorie für Geschichtsumschreibungen gefunden: „Wir erleben in diesen Zeiten ein orwellsches Neusprech par excellence“, erklärt er provokativ und zieht Gaulands „Vogelschiss“ als Beispiel heran. Begriffe wie Trumps „alternative facts“ stehen laut Habeck für das orwellsche Doppeldenk. Jeder einzelne seiner Vergleiche hinkt stark bis sehr stark. Rechte Politiker und ihre Lügen – schauen wir doch nur auf gewisse konservative Politiker der USA oder diverse Mitglieder der AfD – haben mit einem „Ministerium für Wahrheit“, das die komplette Geschichte unwiederbringlich umschreibt, nichts gemein.

Wenn ein Gauland den Holocaust als „Vogelschiss“ in der Geschichte abtut, ist das eine vollkommen andere Ungeheuerlichkeit (Stichwort Verharmlosung), als die Neuschreibung der Geschichte mit Auslöschung der ursprünglichen Wahrheit. Und eine staatliche Überwachung wie die der Dystopie „1984“ mit technischen Gegebenheiten von heute in einen Topf zu werfen, wirkt einfach nur anmaßend. Seine eingeflochtene Kritik an Sozialen Medien hat mit dem Roman Orwells dann sogar rein gar nichts mehr zu tun. Kurz: Dieses Vorwort wird seinem Anlass nicht gerecht, ist politisch und schriftstellerisch problematisch und missversteht George Orwells Roman grundlegend.

Neuübersetzung gelungen

Die Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff ist, wie auch bei „Farm der Tiere“, sehr gelungen. Begriffe, die in unseren Sprachgebrauch derart etabliert sind, finden sich auch hier wieder, insgesamt hat der Text jedoch einen zeitgemäßen und frischeren Anstrich bekommen. Herbst als Sprecher kann man angenehm folgen, seine Intonation unterstützt Gänsehautmomente – ganz im Negativen, denn ein Wohlfühlbuch ist „1984“ sicher an keiner Stelle! Das macht aber rein gar nichts, denn das soll es auch nicht sein. Dass mir keine der Figuren sympathisch war, liegt jedenfalls nicht an Herbst. Ich möchte jeder und jedem Interessierten das Hörbuch gerne empfehlen – das Vorwort könnt ihr euch aber getrost schenken.

1984. George Orwell. Übersetzung: Lutz‑W. Wolff. Gelesen von Christoph Maria Herbst. Random House Audio. 2021.

Pia Zarsteck

Pia Zarsteck

Pias Liebe zur Literatur hat sie vor Jahren an die Uni Bremen geführt, wo sie bis zum Masterabschluss Germanistik studierte. Heute ist sie Vorsitzende im Bücherstadt e.V., Mama einer Vierjährigen und beruflich ganz woanders unterwegs - aber immer noch vernarrt in Bücher und Spiele. Ein Leben ohne die Bücherstadt kann sie sich nicht vorstellen.

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