Gesellschaftskritisch und packend: „Das Glück hat seine Zeit“

von | 28.11.2023 | #OwnVoicesBK, Belletristik, Buchpranger

Der neue Roman der nigerianischen Schriftstellerin Ayòbámi Adébáyò trägt den Titel „Das Glück hat seine Zeit“ – eine unschuldige Überschrift für einen Text, der auf seinen fast 500 Seiten eine tiefgehende Geschichte entrollt. – Von Satzhüterin Pia

Eniolas Familie ist vom Pech verfolgt: Nachdem sein Vater als Lehrer entlassen wurde, schlittert die Familie immer tiefer in die Armut. Während der Vater nach und nach vom Schicksal erschlagen wirkt und nur noch stumm daliegt, kämpft die Mutter ums Überleben der Familie, geht am Ende sogar mit ihren Kindern auf der Straße betteln. Neben Miete und Essen ist auch das Schulgeld immer wieder Krisenthema. Schließlich beschließen die Eltern, dass nur eins der Kinder auf der billigsten Privatschule weitermachen darf – die Wahl fällt auf Eniolas jüngere Schwester Busola, während Eniola die öffentliche Schule besuchen, beziehungsweise die Lehre in Aunty Caros Schneiderei weiterführen soll. Ein Schicksal, mit dem sich Eniola nicht so einfach abfinden mag. Er gerät schließlich an die falschen Typen.

Die Schneiderei dient als Knotenpunkt für die Erzählstränge, denn auch Yeye, eine reiche Frau, gehört zur Kundschaft, und macht Eniola schon bei der ersten Begegnung durch ein hohes Trinkgeld auf das Glück aufmerksam. Wuraola ist eine Assistenzärztin, Ende zwanzig, aus einer wohlhabenden und einflussreichen Familie – sie ist die Tochter von Yeye – und im Begriff den ebenso gut situierten Kunle zu heiraten. Ihrer Geschichte folgen wir parallel zu Eniolas. Der Erzählstrang wirkt anfangs noch wie der positive Gegenpol zum pechverfolgten Eniola, aber auch wenn es Wuraola nicht an Geld und Essen mangelt, so kämpft doch auch sie gegen ihre Dämonen – und die haben es in sich.

Fatale Wendungen

Die Erzählstränge laufen parallel, nah beieinander, und doch liegen Welten zwischen den Figuren. Es vergehen viele Seiten, ehe sich die beiden Hauptfiguren überhaupt begegnen, und auch dann geht es eigentlich nur einmal um ein Zusammenspiel von genau diesen Figuren. Vielmehr ist ihr Schicksal miteinander verbunden, auf eine schreckliche Art, wie die dramatischen Wendungen gegen Ende des Buches deutlich werden lassen. Beide Figuren zeigen sich auf jeweils ihre eigene Weise naiv und hilflos. Eniola, wie er als ahnungsloser Mitläufer einer Bande Mittäter einer Tragödie wird. Und Wuraola, wie sie sich etwas schönredet, das sie am Ende fast ihr Leben kostet.

Inhaltlich plätschert die Geschichte besonders auf den ersten 150 Seiten eher langsam dahin. Leserinnen und Leser werden dadurch aber gut in die Welt geholt, die besonders weißen Deutschen sehr fremd vorkommen dürfte. Wir lernen hier viel über eine andere Kultur, Bräuche und Gepflogenheiten, lernen nach und nach die beiden Familien kennen und fiebern umso mehr mit, als es im weiteren Verlauf der Geschichte konfliktreicher wird und schließlich auf einen schlimmen Schicksalsschlag zusteuert.

Gesellschaftskritisch auf vielen Ebenen

Adébáyò zeigt anhand ihrer Geschichte mit ihren kontrastreichen Figuren ebenjenen krassen Unterschied zwischen arm und reich auf, der im zerrissenen Nigera, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, vorherrscht. Neben den gesellschaftlichen Unterschieden, die aufgrund von großen finanziellen Disproportionen entstehen, zeichnet Adébáyò aber auch scharf die problematischen Geschlechterrollen nach. Die junge, willensstarke und privilegierte Wuraola steht beispielsweise für eine emanzipiertere junge Generation, die über Bildung und eine eigene Karriere Unabhängigkeit anstrebt, während sie zeitgleich so gar nicht frei ist. Sie ist gefangen in strengen, gesellschaftlichen Normen, die ihr sogar zum Verhängnis zu werden drohen. Yeye, ihre Mutter, steht für eine Generation von Frauen, die reich zu heiraten als das ultimative Ziel ansehen, und durch Geschick eine eigene finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen versuchen. Auch Eniolas Schwester Busola und Wuraolas kleine Schwester Motata stehen für eine neue Generation junger Frauen, deren Platz in den patriarchalen, machthungrigen und brutalen Strukturen nicht so leicht zu verteidigen ist. Auf der anderen Seite zeichnet die Autorin auch die Rollen des Mannes nach. Väter als Vorsitzende der Familie, Politiker in einem korrupten Land und zwei jüngere Generationen von Männern: Kunle, der widersprüchliche und schließlich so bedrohliche Ehemann-in-spe und Eniola, der naive Junge, der seine Lektion schon früh im Leben lernen muss.

Die Autorin Ayòbámi Adébáyò hat mit „Das Glück hat seine Zeit“ ein eindrückliches, mitreißendes und ausgesprochen gut lesbares Buch geschrieben. Eine Geschichte, die sich einbrennt, Eindrücke, die nachhallen. Besonders die zweite Hälfte dieses so großartig erzählten Romanes entwickelt eine Dynamik, die einen die Seiten nur so umblättern lassen. Die Personenkonstellationen und die Gesellschaftsstruktur zeigen deutlich, wie sich alle gegenseitig kontrollieren und doch alles unkontrolliert auseinanderbricht – am Ende gewinnt wieder die Korruption.

Das Glück hat seine Zeit. Ayòbámi Adébáyò. Übersetzt von Simone Jakob. Piper. 2023.

Pia Zarsteck

Pia Zarsteck

Pias Liebe zur Literatur hat sie vor Jahren an die Uni Bremen geführt, wo sie bis zum Masterabschluss Germanistik studierte. Heute ist sie Vorsitzende im Bücherstadt e.V., Mama einer Vierjährigen und beruflich ganz woanders unterwegs - aber immer noch vernarrt in Bücher und Spiele. Ein Leben ohne die Bücherstadt kann sie sich nicht vorstellen.

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