Henning Scherf im Interview

von | 03.02.2017 | Buchpranger, Im Interview, Stadtgespräch

„Für viele gilt: so wie wir gelebt haben, so sterben wir auch.“

Viele Leserinnen und Leser kennen Henning Scherf als aufrechten und engagierten Politiker in Bremen. Nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik setzt er sich seit einigen Jahren mit dem Thema Alter und alt werden auseinander. Mittlerweile hat er in diesem Kontext zu vielen Fragen Stellung bezogen und bereits einige bemerkenswerte Bücher geschrieben. Als Gerontologin hat Buchschatzmeisterin Rosi ein besonderes Interesse an seinen Antworten. Sie durfte Henning Scherf zu seinem jüngsten Werk „Das letzte Tabu“ befragen.

BK: Wie kann ein würdevolles und gelungenes Sterben aussehen? Geht ein „würdevolles und gelungenes Altern“ damit einher?

HS: Für viele gilt: so wie wir gelebt haben, so sterben wir auch. Es ist daher sehr vielfältig, wie ein würdevolles Sterben gelingen kann. Hilfreich ist, wenn der Sterbende selbst entscheidet, was mit ihm geschehen soll.

BK: Wie kann ein „gutes Sterben“ trotz widriger Umstände gelingen? Was macht „richtiges Sterben“ aus?

HS: Ich wünsche mir, da sterben zu dürfen, wo ich gelebt habe, begleitet von Menschen, die mich in meiner Not nicht allein lassen. Und ich wünsche mir einen barmherzigen Palliativ-Mediziner, der mich meine letzten Tage ertragen lässt.

BK: Kann unser Gesundheitssystem helfen, dass der Sterbeprozess und das Sterben gut gelingen? Was muss sich ändern?

HS: Es gibt inzwischen über 100.000 freiwillige Hospizhelfer, die meisten sind ambulant unterwegs. Eine Hoffnung auf Besserung bietet auch die in den letzten Jahren stark ausgebreitete Palliativmedizin.

BK: Wie ist es zu verstehen, dass wir alle im Sterben „lebensbejahend“ sind, wo das Sterben und der Tod doch so endgültig sind?

HS: Wer schon einmal Sterbebegleitung erlebt hat, weiß, dass es bis zuletzt um Leben, oft sogar um intensives Leben geht. Ich selber habe dabei unvergessliche, mein Leben bereichernde Erfahrungen gemacht.

BK: Sie fordern mehr „Selbstbestimmung der Sterbenden“. Werden der Sterbeprozess und das Sterben dadurch erleichtert?

HS: Ja.

BK: Glauben Sie, dass wir durch die Medien so sehr mit dem Thema Tod übersättigt sind, dass wir darüber hinaus möglichst wenig mit dem Thema zu tun haben wollen?

HS: Nein. Das Gegenteil ist richtig. Die Medien haben eine große Öffentlichkeit sensibilisiert. Immer mehr Menschen wollen das alte Tabu überwinden. Sie suchen nach eigenen Antworten.

BK: Wie kann es unserer Gesellschaft gelingen, das Sterben und den Tod nicht wie bisher zu verdrängen und auszuklammern? Wie kann eine gelungene „Sterbekultur“ heute und in Zukunft aussehen?

HS: Wir müssen näher zusammenrücken, um nicht in bedrückender Not allein zu sein. Es ist eine zentrale Aufgabe der Zivilgesellschaft in Zeiten der Globalisierung verantwortliches Handeln der Menschen untereinander auch und gerade in Grenzerfahrungen zu stärken.

BK: Viele Menschen sehen in der Sterbehilfe eine gute Möglichkeit, ihr Leben „selbstbestimmt“ zu beenden. Was sagen Sie dazu?

HS: Das ist oft Ausdruck von Alleingelassen sein und von Hilflosigkeit. Wer Zugang zur Palliativmedizin und zur Hospizarbeit hat, fragt nicht nach Suizidmöglichkeiten.

BK: Sie sind voll des Lobes für die Hospizbewegung. Aber: Wenn Menschen im Hospiz versterben, sind sie dann nicht ähnlich „abgeschoben“ wie Menschen, die im Krankenhaus sterben?

HS: Ich kenne nur Hospizangebote, die das Gegenteil von Abgeschobenheit sind. Hier geht es um Zuwendung, um Beistand. Es ist ein Segen, dass es diese Möglichkeiten gibt.

BK: Was muss sich in unserer Gesellschaft ändern, damit Menschen nicht mehr alleine sterben müssen, sondern wieder im Kreis ihrer Familie aus dem Leben scheiden können?

HS: Es gibt auch heute Familien, die sterbende Familienangehörige in ihrer Mitte halten. Wenn das nicht möglich ist, müssen Ersatzangebote wie Hospize her. Wir müssen, jeder auf seine Weise, immer wieder einüben, dass wir die, mit denen wir unser Leben geteilt haben, dann nicht allein lassen, wenn es ihnen schlecht geht.

BK: Was macht Ihrer Meinung nach eine gelungene Sterbebegleitung aus?

HS: Sterbebegleitung ist eine tiefgreifende menschliche Erfahrung, die unseren Blick, unser Selbstverständnis in einer unübersichtlichen Welt auf den Kern, den Sinn unseres Lebens lenkt. Und wenn dann noch professionelle Hilfe der Palliativmedizin erreichbar ist, dann ist das Abschiednehmen ein Trost.

BK: Die Trauerrituale haben sich in den letzten Jahren sehr verändert. Sie werden immer individueller. Geht nicht die Würde des Verstorbenen verloren, wenn das Ritual bei der Trauerfeier zu sehr individualisiert wird?

HS: In erster Linie geht es bei Trauerfeiern um die Anwesenden. Ihnen eine Hilfe zum Trauern, zum Abschiednehmen zu bieten, ist wichtig für die so notwendige Erinnerung an den Verstorbenen.

Das Buch:

Sterben, Sterbeprozess, Sterbebegleitung, Abschiednehmen – diese und weitere Schlagwörter beschreiben charakteristisch den Inhalt des Buches „Das letzte Tabu“ von Henning Scherf und Annelie Keil. Dies ist kein Buch der leichten Lektüre: vielmehr regt es zur Auseinandersetzung mit und zum Nachdenken über das Ende des Lebens an. Für alle, die an der ernsten Thematik interessiert sind, ein lesenswertes und bemerkenswertes Buch.

Das letzte Tabu. Annelie Keil, Henning Scherf. Herder. 2016.

Foto: Tristan Vankann

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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