Hochliteratur kommt vor dem Fall

von | 18.05.2020 | Gedankenkrümel, Kreativlabor

Hochliteratur. Dieser Begriff wird gern gebraucht, auch an der Uni. Er soll eine bestimmte Art von Literatur vom Rest, der Populär- und Schundliteratur abgrenzen. Aber hier stellt sich für mich nun die Frage: Wo verläuft denn eigentlich die Grenze? Was ist hoch, was populär und was ist Schund? – Von Zeilenschwimmerin Ronja

Hochliteratur, da muss man doch sofort an Goethe denken. Der steht ja schließlich in ganz Deutschland auf dem Lehrplan und ist in der Wissenschaft hochgelobt und vielbesprochen. Populärkultur, das sind dagegen all die Krimis und Fantasy-Romane in der Auslage der großen Buchhandlungen. Und Schundliteratur ist das, was man in den hinteren Ecken oder zu Billigpreisen im Internet findet, Nackenbeißer und Ähnliches. Hoch, das heißt qualitätvoll, intellektuell, bedeutungsvoll, nicht wahr? Populär und Schund ist dagegen einfach und bedeutungslos, schnell gelesen, aber ohne Wirkung. So einfach kann man sich die Einteilung machen. Wären da nicht ein paar Probleme: Wie beurteilt man literarische Qualität? Sind Genres wirklich ein gutes Merkmal, um Hoch- von Populärliteratur zu trennen? Was macht ein Werk bedeutungsvoll?

Hochliteratur & Populärliteratur …

Ein Dozent an meiner Uni unterschied ständig zwischen Hoch- und Populärliteratur. Darauf angesprochen, was das aber denn nun heiße, geriet er ins Schwimmen. Die Begriffe sind schwammig, nicht klar definiert. Die Zugehörigkeit zur Hochliteratur erscheint mir beinahe willkürlich. Das möchte ich an einem Beispiel darlegen.

Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ist ein Brief- und Liebesroman. Zu seiner Zeit sehr beliebt, ein Bestseller sozusagen. Die moderne Entsprechung – bei diesem Vergleich werden sich Goethe-Fans die Zehennägel aufrollen – wäre ein Roman wie „P.S. Ich liebe Dich“ von Cecelia Ahern, ebenso ein Brief- und Liebesroman und Bestseller. Wie komme ich auf diese geradezu gotteslästerliche Idee? Abgesehen von den Genreübereinstimmungen und der Beliebtheit zu Zeiten der Erscheinung unterscheiden sich die beiden Romane natürlich. Inhaltlich und sprachlich. „Haha! Ja! Die Sprache!“, ruft mein imaginärer Goethe-Fan an dieser Stelle triumphierend. „Die ist nun wirklich ein Qualitätsmerkmal von Goethe! Somit hast du dein Argument selbst ad absurdum geführt!“ Doch habe ich das? Mein Vergleich beruht auf einer Betrachtung der beiden Werke in ihrem jeweiligen historischen Kontext. Goethes Sprache mag heutzutage besonders erscheinen, doch damals war seine Schreibweise (und ich möchte ihm an dieser Stelle ein gewisses sprachliches Talent nicht in Abrede stellen) nichts Ungewöhnliches. Ebenso wie die Schreibweise von Cecelia Ahern für heutige Verhältnisse nichts Ungewöhnliches ist.

… oder hohe Populärliteratur & populäre Hochliteratur …

Was den Inhalt angeht, behandeln beide Romane die ‚unsterbliche‘ Liebe zu einer anderen Person, die (aus unterschiedlichen Gründen) nicht erfüllt werden kann. Der Vergleich erscheint mir daher umso fairer. Nun die Frage: Wenn „Die Leiden des jungen Werther“ heute geschrieben würde, würde dann irgendjemand von Hochliteratur sprechen? Der einzige Unterschied, den ich bisher herausfiltern konnte, ist die Tatsache, dass Goethe seit über 180 Jahren tot ist, während Frau Ahern noch unter uns weilt. „Die Leiden des jungen Werther“ hat nun schon über 200 Jahre überdauert und wird immer noch gelesen. Das ist eine Erfolgsgeschichte, doch ist Erfolg, wie man von Bestsellerlisten weiß, nicht zwingend gleichzusetzen mit Qualität.

Damit möchte ich aber weder ausdrücken, dass Goethe keine Hochliteratur verfasst hat, noch möchte ich deshalb „P.S. Ich liebe Dich“ in einer solchen Aufzählung sehen. Vielmehr hadere ich mit dem Begriff Hochliteratur selbst und seiner herablassenden, undefinierten Auslegung durch Literaturwissenschaftler*innen und -kritiker*innen.

Letztendlich ist doch für den Wert eines Buches, intellektuell oder emotional, nicht entscheidend, ob ein*e berühmte*r Kritiker*in oder ein*e Literaturwissenschaftler*in mit Doktorgrad gesagt hat, dieses Buch sei wertvoll. Das ist eine persönliche Sache. Sicher tragen Bücher immer (mit wenigen Ausnahmen vielleicht) eine Botschaft in sich, gewollt oder ungewollt hinterlegt von der/dem Autor*in. Es kommt allerdings darauf an, ob der/die Leser*in die Botschaft entschlüsseln kann oder möchte und wie sie/er das tut. Darüber hinaus ist jede Lektüre auch eine Interpretation. Das gilt auch für Filme und Serien. „Die Simpsons“ etwa sind für die einen bloß eine dumme, amerikanische Fernsehserie, für die nächsten witzige Unterhaltung und für viele daneben auch noch eine satirische Gesellschaftskritik. Zu welcher Gruppe man gehört, kommt darauf an, ob man mit den enthaltenen Codes* etwas anfangen kann und ob man bereit ist, sich darauf einzulassen.

… oder einfach hochpopuläre Literatur?

In die gleiche Bresche wie Populär- und Hochliteratur schlägt auch die Einteilung in sogenannte U- und E-Literatur, „Unterhaltungsliteratur“ und „ernsthafte Literatur“. Erstere soll Spaß machen und ist massentauglich, während letzte vor allem einen künstlerischen und intellektuellen Anspruch habe. Also: gleiches Prinzip, anderer Name. Nun sind wir uns vermutlich alle einig, dass es Bücher gibt, die sprachlich pompöser, inhaltlich komplexer und insgesamt fordernder (oder auch anstrengender) sind als andere. Es spricht für mich jedoch nichts dagegen, dass ein solches Buch trotzdem Spaß machen kann beziehungsweise ein unterhaltsames Buch auch inhaltlich und sprachlich wertvoll sein kann. Wie bei den meisten Dingen ist eine schwarz-weiß Einteilung stark vereinfachend und unzureichend. Es müsste also mindestens eine weitere Kategorie, zum Beispiel „ernsthafte Unterhaltungsliteratur“ (EU) oder „unterhaltende Ernstliteratur“ (UE – vielleicht auch Ü?), her, um der vielschichtigen Realität etwas gerechter zu werden.

Das Problem der Definition der Begriffe und vor allem der Frage, woran sprachliche, inhaltliche oder künstlerische Qualität festgemacht wird, bleibt jedoch, egal ob von Hochliteratur/Populärliteratur oder U- und E-Literatur die Rede ist. Kunst und ihre Beurteilung ist eben immer subjektiv.

* Der Begriff Code geht auf das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall zurück. Dessen Grundlage ist die Auffassung von Texten als grundsätzlich mehrdeutig. Je nachdem mit welchem Vorwissen und welcher Meinung ihr einen Text lest (oder einen Film seht etc.) variiert die Bedeutung eines Textes im Vergleich zur Lesart eines anderen Menschen, da ihr sehr wahrscheinlich die im Text enthaltenen Codes (bspw. den Verweis auf ein anderes Buch) anders entschlüsselt (oder vielleicht auch gar nicht entdeckt).

Illustration: Zeilenschwimmerin Ronja

 

Bücherstadt Magazin

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