Alina Bronsky überzeugt Buchstabenakrobatin Melanie mit ihrem neuen Roman „Pi mal Daumen“ und das, obwohl sich im Leben des 16-jährigen Ich-Erzählers alles um die Mathematik dreht. Zumindest anfangs …
So hat Oscar sich das Mathematikstudium nicht vorgestellt. Nicht nur, dass die Hörsäle überfüllt sind mit Studierenden, die nach Ansicht des 16-jährigen Ausnahmetalentes nicht annähernd intelligent genug sind, um ein Mathematikstudium zu absolvieren, auch ist er gezwungen, Übungsaufgaben gemeinsam mit ihnen zu erarbeiten. Schwammige Formulierungen in Aufgabenstellungen sorgen darüber hinaus dafür, dass Oscar trotz richtiger Lösung mit null Punkten bewertet und seine bisher so gefürchteten E-Mails mit einem einzigen Wort vom Professor abgeschmettert werden – „ein schreiendes Unrecht.“ (S. 86) Und dann ist da auch noch Moni Kosinsky, eine Mittfünfzigerin, die in der ersten Vorlesung „wahlweise für eine Sekretärin oder für eine Kantinenfrau, die sich verlaufen hatte“ (S. 5), gehalten wird und den sozial inkompetenten – vermutlich autistischen – Oscar völlig aus der Bahn wirft.
„Das sind Monis Enkel, Püppis direkte Nachkommen.“ Ich hatte Justin neben den beiden Kevins mit einem aussagekräftigen Symbol markiert. „Und diese Sackgasse hier ist Pit. Über ihn habe ich keine Informationen und ich will auch keine haben. Er ist ein Klotz am Bein. Seinetwegen macht Moni ein Geheimnis aus dem Studium.“ (S. 127)
Mehr als bloße Mathematik
Moni Kosynski ist das genaue Gegenteil von Oscar: Sie ist schrill, herzlich, offen und stets hilfsbereit. Sie versorgt ihren Freund, ihre Tochter und ihre drei Enkel, hat mehrere Jobs, immer ein offenes Ohr für Probleme und Sorgen anderer und das Mathe-Studium ist für sie eher eine Liebhaberei als ein Lebensentwurf.
Durch Moni tritt nicht nur eine gehörige Portion Chaos in Oscars Leben. Hinzu kommen der beinahe unerhört schöne Justin, zwei Kevins, von denen einer Oscar ähnlicher scheint, als er zugeben mag, und on top noch einige Rätsel, die deutlich schwerer zu bezwingen sind als der Stoff des Studiums. Denn zur großen Überraschung des Mathe-Freaks, ist ausgerechnet die nach eigenen Worten nicht so schlaue Moni, die stets mit einer IKEA-Tasche voller Gummistiefel, Gemüse, Taschentüchern und allerlei Snacks ausgerüstet ist, mit dem berühmtesten Mathematiker Deutschlands, Oscars großem Idol, bekannt. Woher kennen sich die beiden? Wie konnte es Moni gelingen, die Elite der mathematischen Fachschaft für sich zu gewinnen? Und was hat Monis verschollener, hochintelligenter Bruder, ebenfalls Mathematiker, mit all dem zu tun?
Wenn ich mir jemals eine Begegnung zwischen meinen Eltern und Moni vorgestellt hätte, dann sicher nicht so. […] „Moni Kosinsky. Ich bitte um Entschuldigung. Sie müssen sich wahnsinnige Sorgen gemacht haben. Ich habe Ihren Sohn aus Versehen entführt.“ […] „Bis jetzt hat ihn noch jeder Entführer freiwillig zurückgebracht“, mischte sich mein Vater ein. „Wollten Sie ihn ebenfalls nicht behalten?“ (S. 121)
Lustig, liebenswert, lesenswert!
Alina Bronsky hatte mich schon auf der ersten Seite. Eindrucksvoll gelingt es ihr, Oscar trotz seiner zuweilen herablassenden Art, seinem Unverständnis für die Probleme, Lebensentwürfe und Gefühle anderer, seinem Ekel vor Menschenansammlungen und seiner Liebe für die Mathematik liebenswert erscheinen zu lassen. Durch seine Augen erhalten wir Einblicke in die Schwierigkeiten, die das Leben autistisch veranlagter Menschen mit sich bringt, ganz ohne Mitleid zu erregen. Vielmehr sorgen Oscars eigenwillige Sicht auf den Universitätsbetrieb, sein wiederholtes Aufeinandertreffen mit Monis Familie und die realitätsfernen Empfehlungen, wie die überlastete Mathematikstudentin ihr Leben optimieren kann, für viel Witz. Die geschickt eingestreuten Geheimnisse um die Vergangenheit von Moni tragen ihren Teil dazu bei, dass ich „Pi mal Daumen“ nur ungern aus der Hand gelegt und trotz gehörigem Alltagstrubel in kürzester Zeit verschlungen habe.
Ein schöner Roman, durchzogen von Humor, Freundschaft und ein bisschen Liebe (nicht nur für die Mathematik), der auch ohne Hollywood-Happy-End auskommt. Eine absolute Leseempfehlung!
Pi mal Daumen. Alina Bronsky. Kiepenheuer & Witsch. 2024.
Das Buch wurde übrigens zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen 2024 erklärt.
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