Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse (11. – 15.10.) ist Frankreich das Gastland. Ein Grund mehr, sich französischer Literatur zu widmen. Zeichensetzerin Alexa hat zu Véronique Olmis „Nacht der Wahrheit“ gegriffen und sich näher mit Identität und Fremdheit beschäftigt.
Vielleicht ist bereits alles erzählt: jede Geschichte, jeder Plot, alle möglichen Figurenkonstellationen. Überall sieht man wiederkehrende Grundmuster – in Filmen wohl noch offensichtlicher als in Büchern – und Themen, Hintergründe etc. Was das einzelne literarische Werk schlussendlich ausmacht, sind die Dinge zwischen den Zeilen, die Sprache, das Spiel mit Bekanntem und Wiederkehrendem. Das Was und das Wie in der Kombination. Manchmal ist das Was nur das Mittel zum Zweck und andersherum. Und manchmal werden Grundmuster und Figuren so gemischt, dass sich etwas scheinbar Neues ergibt.
Véronique Olmis Roman „Nacht der Wahrheit“ beinhaltet thematisch viel Bekanntes: Es geht um eine junge, alleinerziehende Mutter und ihren zwölfjährigen, übergewichtigen Sohn Enzo. Liouba ist Putzfrau und verdient nur wenig. Ungewöhnlich ist, dass sie in der Wohnung leben, in der Liouba arbeitet. Ihre Arbeitgeber sind oft und lange auf Reisen und da ungewiss ist, wann sie zurückkehren, putzt sie tagtäglich die Wohnung. Ihre Erwartungen an ihren Sohn sind hoch, er soll sich benehmen und gute Noten mitbringen. Dass er Probleme in der Schule hat und gemobbt wird, verschweigt er ihr. „Es war nicht sein Gewicht, sein Name, seine Mutter oder sein Geruch. Es war seine Herkunft, die sie alle empörte. Enzo wusste nicht, woher er kam, und die anderen ertrugen es nicht.“ (S. 71)
Identität und Herkunft
Es sind nicht nur die schulischen Anforderungen und seine Mitschüler, die Enzo unter Druck setzen. Wenn Liouba Besuch von ihren Freundinnen bekommt, muss er sich vorbildlich zeigen. Wenn sie mitten in der Nacht Männer mit nach Hause bringt, tut er, als würde er nichts mitbekommen. Und im Hintergrund steht immer wieder die Frage nach dem leiblichen Vater. Wo ist er jetzt? Wie ist er? Diese Ungewissheit macht Enzo zu schaffen, es dauert lange, bis Liouba mit ihm darüber spricht. Er sei ein „Unfall“ gewesen, sie selbst bezeichnet es als „Überraschung“. Enzo erfährt, dass sein Vater russischer Abstammung ist.
Herkunft und Identität spielen eine grundlegende Rolle und werden in vielen Dialogen und Gedankengängen thematisiert. Wer bin ich? Wo komme ich her? Dadurch, dass der Vater unbekannt ist, fällt es Enzo schwerer, herauszufinden, was ihn selbst ausmacht. Die Frage nach der Identität beginnt immer wichtiger zu werden. Enzo hängt seinen Tagträumen nach, nachts hat er Alpträume. Immer wieder taucht dabei die Soldatenfigur auf, welche in der Wohnung steht, und sein Interesse am 1. Weltkrieg weckt. Seine Neugier ist groß; er liest in Geschichtsbüchern vom Weltkrieg und der Beziehung Russlands und Frankreichs, welche noch bis zur Gegenwart anhält.
Das Fremde
Es bleibt nicht beim Beschimpfen und Ärgern. Irgendwann kommen Enzos Mitschüler auf die Idee, es dem Russen zu zeigen: „Es war mehr als eine Misshandlung, es war eine Initiation, sie würden gemeinsam handeln, aus Solidarität, und die Party steigen lassen.“ (S. 182) Die Schüler sind noch keine vierzehn Jahre alt, einige zweifeln, lassen sich dann jedoch vom kollektiven Wirken und dem Adrenalin leiten. Einer macht den Anfang, pinkelt auf den im Keller gefesselten Enzo. Dann beginnt die Folter. Alles wird gefilmt. Die Szenen der Gewalt sind unerträglich und verstörend. Sie zeigen, welche Ausmaße Gruppenzwang annehmen und wohin Fremdenhass führen kann. Unbegreiflich ist die Tatsache, dass es sich bei den Folterern um Kinder handelt. Wie kann es sein, dass sie zu solchen Taten in der Lage sind? Welche Hintergründe stecken dahinter und welchen Einfluss haben Erwachsene darauf?
Es ist wie Tag und Nacht: Nach der Misshandlung ändert sich alles. Enzo beschließt, sein Leben hinter sich zu lassen und neu zu beginnen, auch wenn er seine Mutter allein zurücklassen muss. An einem anderen Ort, fernab schlechter Erinnerungen und einengender Umstände, lernt er das Leben von einer schönen Seite kennen.
„Er hatte Lust, durch den Wald zu laufen, denn der Abend brachte neue Gerüche von Harz und Pinie hervor, und es war das erste Mal, dass er über totes Holz und Steine lief. Der Wald stieg an, bis hoch über dem Dorf, es gab winzige Blumen, deren Namen er nicht kannte, und eine neue Stille, vergänglich und idyllisch.“ (S. 259)
Komplexe Gedanken- und Beziehungsebenen
Was Olmis Roman ausmacht, sind die Gedanken- und Beziehungsebenen. In vielen Beschreibungen werden die Sichtweisen von Liouba und Enzo verdeutlicht, ihre Gefühle und Gedanken aufgezeigt. Beide Seiten sind nachvollziehbar. Liouba, die eine gute Mutter sein, aber auch eigenen Interessen nachgehen will. Sie ist noch jung und sehnt sich nach einem Mann, der ihr Geborgenheit gibt. Enzo, dem viele Fragen auf der Seele brennen und der sich seinen Problemen allein stellt, um Liouba nicht unnötig zur Last zu fallen.
Die Mutter-Sohn-Beziehung ist tief und komplex wie im realen Leben. Olmi vermag es, dies in Worten zu spiegeln und festzuhalten, dass Beziehungen, gleich welcher Art, weder eindeutig noch einfach sind. Sprachlich sowie inhaltlich arbeitet sie wichtige Themen heraus und schafft es, dem Roman Vielschichtigkeit und Tiefe zu verleihen. „Nacht der Wahrheit“ ist kein Roman, den man mal eben lesen kann, sondern einer, der emotional herausfordert und noch lange nachklingt.
Nacht der Wahrheit. Véronique Olmi. Aus dem Französischen von Alexandra Baisch und Claudia Steinitz. Kunstmann. 2015.
Zum Weiterlesen:
- Abels, Heinz: Identität. Wiesbaden. 2010.
- Florack, Ruth: Bekannte Fremde – Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen. 2007.
- Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität – Ausgewählte Schriften 2. Hamburg. 1994.
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