Juli, August, September – und dann?

von | 13.04.2025 | Belletristik, Buchpranger

Verlust, Erinnerungen, die Suche nach der eigenen Identität und die ganz alltäglichen Probleme in Partnerschaft und Familie beschäftigen Olga Grjasnowa in ihrem neuen Roman „Juli, August, September“. Buchstabenakrobatin Melanie hat mit Heldin Lou mitgefühlt.

Lous zweiter Ehemann ist ein Glücksgriff: ein gefeierter Pianist und, wie Lou selbst, jüdisch. Doch hinter der Fassade bröckelt der schöne Schein und das nicht nur, weil Sergej und Lou sich uneinig sind, ob und wie sie ihr Jüdisch-sein an die gemeinsame Tochter Rosa weitergeben sollen. Denn was bedeutet ihre jüdische Herkunft für sie selbst und für ihre Tochter, wenn es hierbei nicht mehr um Religion geht? Diese Frage lässt Lou nicht los und lässt sie ihre eigene Identität hinterfragen.

Ein All-Inklusive-Familientreffen zum 90. Geburtstag von Großtante Maya in einem abgehalfterten Resort auf Gran Canaria kommt zeitlich wie gerufen, um Lous Wirren um ihre Identität zu lösen. Doch stattdessen wirft der versammelte ex-sowjetische Clan aus Israel – eine Familie, die nur noch von gegenseitiger Missgunst und alten Geschichten zusammengehalten wird – weitere Fragen auf. Denn die Erinnerungen der ältesten Familienmitglieder, die wie üblich Teil der Familienzusammenkünfte sind, verändern sich mit jeder neuen Erzählung:

„Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. (…) Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte. Darum galt nun Mayas Wort.“

Zwischen kleinen und größeren Bösartigkeiten und unausgesprochenen Konflikten zwischen ihr und Sergej beschließt Lou kurzerhand, in Tel Aviv nach den ersehnten Antworten zu suchen.

Mehr Fragen als Antworten

Eine russisch-jüdische Familiengeschichte, ein von Lampenfieber geplagter Konzertpianist, Ungesagtes und Vertrauensbrüche in der Ehe, Fragen der Erziehung, der Verlust eines Kindes und die Suche nach der eigenen Identität – Olga Grjasnowa gelingt es in ihrem fünften Roman diese unterschiedlichen Handlungsstränge miteinander zu verbinden. Obgleich es sich bei „Juli, August, September“ um einen Roman handelt, finden sich interessante Parallelen zwischen Kunsthistorikerin Lou, ihrer Familiengeschichte und der Biografie der Autorin. Zynische Alltagsbeobachtungen, beispielsweise über die unterschiedliche Behandlung von Russlanddeutschen und jüdischen Kontingentflüchtlingen in Deutschland oder die Erinnerung an den Holocaust mittels banalisierender Bilderbücher über Anne Frank, lenken den Blick der Leser*innen zudem auf außerliterarische Ungerechtigkeiten und den teilweise geschönten Umgang mit der deutschen Geschichte.

Der Ton und das Tempo, in dem Grjasnowa in diesem Roman erzählt, haben mich wie schon in „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ und „Gott ist nicht schüchtern“ mitgenommen. Feingefühl, Zärtlichkeit, Direktheit und eine angenehme Portion bissigen Humors haben mich durch die thematische Schwere getragen und mich immer wieder schmunzeln lassen.

Romanheldin Lou bleibt auch am Ende des Romans hin- und hergerissen und steht vor der Herausforderung, die Splitter ihrer selbst und ihrer Herkunft zusammenzubringen. Antworten auf die drängenden Fragen zu ihrer Identität, der Erziehung ihrer Tochter, der Beziehung zu Sergej und dem, was Großtante Maya und ihre Schwester tatsächlich in den Jahren rund um den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, bleiben unbeantwortet und lassen nicht nur Lou, sondern auch die Leser*innen unwissend zurück. Wer Olga Grjasnowas Romane kennt, weiß jedoch, dass ein Happy End ohnehin nicht zu erwarten war. Und am Ende geht es vielleicht auch gar nicht darum, für alles eine Antwort zu finden und die eine Wahrheit aufzudecken. Wie auch Lou müssen wir lernen, mit den Lücken in unseren Geschichten zu leben.

Juli, August, September. Olga Grjasnowa. Hanser Literaturverlage. 2024.

Melanie Trolley

Melanie Trolley

Die Leidenschaft für das geschriebene Wort hat Melanie nach Bremen und dort an die Uni verschlagen. Das Studium der Germanistik hat ihr einen veränderten Blick auf Bekanntes ermöglicht, die Augen für Neues geöffnet und Begeisterung fürs Bilderbuch entfacht. Als Texterin arbeitet Melanie täglich daran, die richtigen Worte zu finden – im Beruf vorerst ohne literarische Berührungspunkte.

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