Keep calm! It’s only an extra Chromosome

von | 14.05.2018 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

Sommer in Schweden, das ist für viele ein Traum – für Madeleine ganz und gar nicht! „Stechmückensommer“ von Jutta Wilke ist wie verreisen, findet Worteweberin Annika, verreisen nach Schweden und in eine Zeit, als man selbst noch 13 war.

Jutta Wilke hat in „Stechmückensommer“ drei besondere Hauptfiguren versammelt, die für viele 08/15-Jugendbücher wahrscheinlich nicht hübsch, nicht dünn, nicht angepasst, schlicht: nicht „normal“ genug gewesen wären. Dabei bieten diese drei Reisegefährten gerade dadurch viel Spielraum und Identifikationsfläche. Madeleine zum Beispiel, die Ich-Erzählerin, wird von den meisten übersehen. Eigentlich ist ihr das sogar ganz lieb, denn sie ist dick und mag deswegen nicht aufgezogen werden.

„Wie ein Tor in eine andere Welt sieht der See aus und ich stelle mir vor, hineinzuspringen und in einem ganz anderen Leben wieder rauszukommen. In einem Leben, in dem […] Eltern nicht ohne ihre Kinder Urlaub machen und Kinder nicht ohne ihre Eltern, außer sie wollen es und in dem es mir nichts ausmacht, einen Badeanzug anzuziehen, in dem es mir egal ist, ob ein Junge mich in einem nassen T-Shirt sieht, ein Leben, in dem ich überhaupt gesehen werde und nicht unsichtbar bin.“ (S. 80-81)

Nicht nur die anderen Jugendlichen machen einen Bogen um Madeleine – und nennen sie auch noch „Made“ – auch ihre schlanke und schöne Mutter scheint sich für die mächtige Tochter manchmal zu schämen.

Ferienlager? Nein, danke!

Jetzt haben die Eltern Madeleine allein in ein Sommerlager nach Schweden geschickt und sind selbst nach Japan gereist, weil sie Zeit für sich brauchen. In Småland soll die fast Vierzehnjährige den Sommer mit Gleichaltrigen verbringen, doch das geht gar nicht, findet sie! Manche der Mädchen im Lager spielen noch mit Barbies und sind echte „Babys“, die anderen wollen mit der „Made“ nichts zu tun haben. Und dann stehen im Ferienlager auch noch Aktivitäten wie Schwimmen oder Wandern an, von denen Madeleine so gar nichts hält, weil sie sich zu sehr schämt. Bei einem Ausflug in ein Bergwerk klinkt sie sich kurzentschlossen einfach aus. Sie legt sich im Bus auf dem Parkplatz schlafen und wacht kurze Zeit später neben einem jungen Punk wieder auf – unterwegs ans Nordkap!

Der Punk, das ist Julian, der mit fünfzehn natürlich eigentlich noch gar nicht Autofahren dürfte. Und auch wenn er mit seinen roten und grünen Haaren ziemlich wild aussieht, ist er seit langem der einzige, der Madeleine so nimmt, wie sie ist. Hinter seiner harten Schale, das merkt sie bald, steckt eigentlich ein ziemlich weicher Kern. Der ist auch der Grund für die überstürzte Reise zum Nordkap, denn die hat Juli seinem Opa versprochen, der aber vorher an Krebs gestorben ist. Nun soll es auf eigene Faust klappen. Und auch wenn Madeleine das ziemlich verrückt findet, gefällt ihr die Vorstellung irgendwie:

„Der Sommer ist plötzlich eine einzige irre total verrückte Möglichkeit. Alles ist möglich.“ (S. 74)

Und weil das so ist, kann auch Madeleine eine andere sein, mutig und frei, ohne die ständigen Sorgen. Unterwegs mit Juli legt sie sich einen anderen Namen zu, Lore, der viel besser zu dem passt, was sie gerne wäre.

Keep calm! It’s only an extra Chromosome

Aber natürlich kann nicht alles glatt laufen, wenn zwei Jugendliche mit einem geklauten Auto durch Skandinavien düsen. Irgendwann ist der Tank alle, das Geld verschwunden. Statt einer Tankstelle sammeln die beiden Vincent ein, auf dessen T-Shirt der Spruch prangt: Keep calm! It’s only an extra Chromosome. Aber wie soll man da ruhig bleiben? Am Anfang überwiegen insbesondere bei Juli die Berührungsängste mit dem „Behinderten“. Trotzdem beweist Vincent beiden direkt, dass man ihn nicht abschreiben sollte, denn auch er kann zum Gelingen der Mission beitragen. Trotzdem brauchen Madeleine und Juli lange, um zu begreifen, dass man von außen nicht auf das Innere einer Person schließen sollte und das anders noch lange nicht schlechter sein muss.

Wie die Jugendlichen unterwegs zum Nordkap können auch LeserInnen hier ihre Vorurteile auf den Prüfstand stellen und ganz nebenbei, durch die Identifikation mit den drei wundervollen Figuren, viel über Diversität und „Anders“-Sein lernen. Das gelingt Jutta Wilke ganz ohne einen belehrenden Zeigefinger. Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt sie ihre jugendlichen Charaktere, ohne dabei in Klischees zu verfallen, denen man in manch anderen Jugendbüchern begegnet. Die drei Jugendlichen und ihre Probleme werden ernst genommen – und weil nicht nur die erste Liebe zum Gefühlsrepertoire von Dreizehn- und Vierzehnjährigen zählt, geht es darum in dieser Coming-of-Age-Story auch fast gar nicht. Stattdessen stehen die Persönlichkeitsentwicklungen des Trios im Mittelpunkt.

Freundschaft vor wunderschöner Kulisse

Auf der Reise lernen Madeleine – oder Lore –, Juli und Vincent Selbstvertrauen und Freundschaft kennen. Die Probleme, mit denen sie sich konfrontiert sehen, können sie gemeinsam meistern und erkennen letztendlich sogar, dass das Ankommen gar nicht so wichtig ist.

„So ist es also, das Leben. So frisch. So wunderbar angenehm frisch und lebendig. Und dann schwimme ich lachend und mit wenigen Schwimmstößen zu Juli und tunke ihn unter und spritze Vincent Wasser ins Gesicht bis er kreischt und mein Körper fühlt sich so leicht und so frei wie nie zuvor.“ (S. 186)

Wichtig für die Reise und die Entwicklung ist sicherlich auch die faszinierende Landschaft Südschwedens, die das Trio gemeinsam durchquert. Die Natur lässt Madeleine Raum für ihre Gedanken, die zu Hause in Deutschland immer an der Wand des Nachbarhauses abprallten. (Und ein Vorteil ist natürlich auch, dass man in der Idylle praktisch ungesehen mit einem geklauten Auto verschwinden kann, weil einem keine anderen Fahrzeuge begegnen.) Wilkes Beschreibungen der Landschaft transportieren das Urlaubsgefühl wunderbar weiter und machen Lust auf Sommer in Schweden:

„Und dann muss ich eine ganze Weile einfach erst mal stehen und gucken und die Luft einatmen. Die Augen zumachen. Weil etwas so Schönes wie dieser See mit offenen Augen kaum auszuhalten ist. So schön, dass sich die Härchen an meinen Armen aufstellen, weil auch die Haut das alles einatmen will, in allen Poren den Sommer spüren und am liebsten nie wieder loslassen.“ (S. 80)

Ansonsten ist Wilkes Stil von teils kurzen, stakkatoartigen Sätzen geprägt, in denen sich Madeleines sich überschlagende Gedanken spiegeln.

„Stechmückensommer“ ist ein herrlicher Roman, der jugendliche LeserInnen ernst nimmt und wichtige Themen des Erwachsenwerdens sowie unserer Gesellschaft anspricht, der aber auch für Erwachsene eine sonnige Lektüre sein kann.

Stechmückensommer. Jutta Wilke. Knesebeck. 2018.

 

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

4 Kommentare

  1. Avatar

    Wunderbar, liebe Annika – das hat mich richtig neugierig gemacht!

    Da werde ich wohl gleich tatsächlich durch Berlins momentanen Bilderbuchsommer zu meinem Lieblingsbuchladen laufen …

    Dir herzlichen Dank für diese Anregung und eine sorglose, lesefutterreiche Zeit
    Bianka

    Antworten
    • Worteweberin Annika

      Liebe Bianka, das freut mich! Ich hoffe, du verbringst mit der Geschichte sonnige und genüssliche Lesestunden – falls du magst, verrat mir doch hier später gerne, wie dir das Buch gefallen hat.
      Viele Grüße nach Berlin,
      Annika

      Antworten
  2. Avatar

    Liebe Annika, auch ich habe durch deine wunderbare Buchvorstellung jetzt richtig Lust darauf, diese Geschichte zu lesen.
    Ich finde deine Rezensionen großartig, für mich sind sie hier im Bücherstadkurier die allerlesenswertesten, denn sie sind immer so gefühlvoll und mitreißend geschrieben, so dass dann auch wirklich die Begeisterung für Literatur rüberkommt, und einem nicht, wie bei manchen anderen Beiträgen, eher die Lust am Lesen vergeht. Vielen Dank dafür!

    Antworten
    • Worteweberin Annika

      Ganz lieben Dank für deine netten Worte, liebe Marlis!
      Schön an der Bücherstadt ist für mich, dass wir alle hier einen etwas anderen Blick auf Literatur haben – aber natürlich höre ich sehr gerne, wenn dir meine Art, über Literatur zu schreiben, so gut gefällt – ich hoffe, das bleibt auch so!
      Und natürlich bin ich auch gespannt, was du über „Stechmückensommer“ denkst, wenn du damit durch bist, also lass gerne von dir hören. Bis dahin viele sonnige Urlaubsgrüße,
      Annika

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