Die Welt ist schon verrückt. Oder vielmehr die Menschen, die sie regieren. Sie brauchen ihre Strukturen – und seien sie noch so seltsam –, um funktionieren zu können. Italo Calvino erzählt in seiner Geschichte „Das schwarze Schaf“, wie es überhaupt dazu kommt, dass Menschen so etwas wie die Polizei und das Gefängnis brauchen. – Von Zeichensetzerin Alexa
„Es gab einmal eine Stadt, in der alle Einwohner Diebe waren.“ Hier ist es nichts Ungewöhnliches oder gar Schlimmes, ein Dieb zu sein. Denn dadurch, dass jeder jeden bestiehlt, entsteht ein natürlicher Kreislauf von Nehmen und Geben. Die Einwohner dieser Stadt sind jedenfalls sehr zufrieden mit ihrem Leben, bis eines Tages ein Ehrlicher auftaucht. Statt nachts stehlen zu gehen, bleibt er lieber zu Hause und liest! Das können die Einwohner der Stadt nicht verstehen. Das bringt ihr ganzes System durcheinander! Wenn jemand ein Haus nicht leerräumt, sammelt sich in diesem das Gestohlene und die Kluft zwischen Reich und Arm beginnt zu wachsen.
Der Ehrliche sieht das natürlich ein und geht fortan ebenfalls nachts aus dem Haus, damit er bestohlen werden kann. Er selbst geht aber nicht stehlen. „Er war nun einmal ein Ehrlicher, da ließ sich nichts machen.“ Bald schon hat der Ehrliche nichts mehr und muss Hunger leiden.
Gesellschaftliche Strukturen
Reiche, die mehr als genug besitzen, haben nach einiger Zeit keine Lust mehr zu stehlen. Arme, die in das Haus des Ehrlichen einbrechen, bleiben weiterhin arm. So kann es nicht funktionieren, denken sich die Einwohner der Stadt und so wird die „Agentur für Diebstahl“ eingeführt, später die Polizei gegründet und anschließend werden Gefängnisse gebaut. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Stehlen bleibt auch weiterhin für beide Seiten eine Option, denn: „Es gab Reiche, die so reich waren, dass sie es nicht mehr nötig hatten, zu stehen oder stehlen zu lassen, um reich zu bleiben. Aber wenn sie aufhörten zu stehlen, wurden sie arm, weil sie von den Armen bestohlen wurden.“
In einer Stadt, in der Handel einzig durch Diebstahl erfolgt, ist jemand, der auf Ehrlichkeit beharrt, nur ein Störenfried, ein Fremder, jemand, der allen anderen das Leben schwer macht. Ein Umdenken, geschweige denn Integration, ist unmöglich. Wer sich nicht den gesellschaftlichen Strukturen anpasst, geht unweigerlich verloren. Ein Überleben in einem System, das der eigenen Persönlichkeit widerspricht, ist undenkbar.
Fotocollage und Ehrlichkeit
Spannend im Hinblick auf die thematische Auseinandersetzung mit der Ehrlichkeit ist die künstlerische Umsetzung des Bilderbuches. Lena Schalls Bilder enthalten Fotocollagen und zeigen modellierte Figuren. Diese Techniken wecken Assoziationen mit Fotomontagen, verfälschten Realitäten, Bildausschnitten, die nicht alles erzählen – und vor allem: verformbare Figuren. Setzt man dies alles in Verbindung mit der Geschichte Calvinos erscheint die dargestellte Welt noch unnatürlicher und absurder, voller erzwungener, selbst zusammengebastelter Wirklichkeiten, ohne tatsächlich real zu sein. Die Bedeutung eines starren gesellschaftlichen Systems wird dadurch in ein Licht des Widernatürlichen gerückt. Kein Wunder also, dass in einer solchen Welt kein Platz für Ehrlichkeit ist.
„Das schwarze Schaf“ ist ein Werk, dessen Stärke gerade in der Kombination von Text und Bild liegt. Die durchscheinende Gesellschaftskritik wird Erwachsene mehr interessieren als Kinder. Dennoch könnte die Geschichte eine gute Möglichkeit bieten, um mit älteren Kindern über die hier angesprochenen Themen zu philosophieren.
Das schwarze Schaf. Geschichte: Italo Calvino. Illustration: Lena Schall. Mixtvision, 2017. BK-Altersempfehlung: Ab 7 Jahren.
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