Braucht es eine weitere Märchensammlung? Eine berechtigte Frage, findet Buchstabenakrobatin Melanie. Sie hat sich Cornelia Funkes Zusammenstellung „Die Froschprinzessin. Märchen aus aller Welt“ genau angesehen und eine Antwort gefunden.
„Volkssagen und Märchen sind oft sehr reaktionär. Sie versuchen nicht einmal, ihr Ziel zu verbergen: die Werte patriarchaler Gesellschaften zu bestätigen und zu bewahren, mit ihrer strengen Hierarchie, die auf Eigentum und Waffengewalt basiert.“ (S. 9)
Cornelia Funke findet im Vorwort ihrer Märchensammlung klare Worte gegen die zum Teil seit Jahrhunderten wiedererzählten Geschichten und gesteht ein, dass sie Märchen eigentlich gar nicht mag. Und dennoch hat sie 13 Märchen aus Europa und Asien für einen erneuten Abdruck ausgewählt, denn trotz ihrer Abneigung, „verzaubern [Funke] einige [Märchen] zutiefst. Denn in ihren Bildern von Ungeheuern und magischen Dingen bewahren sie viele ansonsten vergessene Wahrheiten.“ (S. 12) Trotz aller Kritik am Märchen nimmt Funke ihre Leser*innen nun also mit auf eine Reise durch „vertraute und unvertraute Märchenwelten“ und präsentiert neben den bekannten Märchen der Brüder Grimm (z. B. „Die sechs Schwäne“) Märchen, die den meisten unbekannt sein dürften, beispielsweise „Die Betelnusspalme“ aus Vietnam oder „Die Maid vom Kupferberg“ aus Russland.
Nicht nur die außergewöhnliche Textauswahl, die interessante Einblicke in andere Märchenkulturen gibt, und das kritische Vorwort der Kuratorin machen dieses Buch besonders. Funke kommentiert jedes Märchen, mal mit einer persönlichen Leseerinnerung oder mit Deutungsansätzen, mal mit einem Vergleich westlicher/europäischer und östlicher/asiatischer Märchenwelten und -figuren. Darüber hinaus stellt sie eine Vielzahl von Verbindungen zur „Reckless“-Reihe her, die Fans des Fantasy-Mehrteilers spannende Hintergrundinformationen offenbart und denen, die die Reihe (noch) nicht kennen, Leseanreize liefert.
Ein besonderer Zugewinn zur Märchensammlung sind Funkes Reflexionen über die Rolle von Frauen und Mädchen innerhalb der Geschichten. Sie gibt hierin Informationen zu Rollenbildern unterschiedlicher Zeiten und Kulturen, hinterfragt die schablonenhafte Darstellung von Männern und Frauen und gibt Denkanstöße, die alten Erzählungen neu zu schreiben:
„Wie würde diese Geschichte ausgehen, habe ich mich beim erneuten Lesen gefragt, wenn der Vater drei Söhne statt Töchter gehabt hätte? Es wäre eine interessante Aufgabe, sämtliche Märchen auf diese Weise umzuschreiben: Söhne durch Töchter zu ersetzen und anders herum.“ (S. 28)
Mit mehr als 40 Illustrationen hat die junge Illustratorin Julia Plath Funkes Märchensammlung in ein besonderes Gewand gehüllt und jedes Märchen um ein ganzseitiges Titelbild, eine Initiale und eine kleine Abbildung ergänzt. Die Titelbilder haben mich besonders beeindruckt: Einige sind vielfarbig und doch zurückhaltend, andere sind bloß eine schwarze Zeichnung auf farbigem Grund, die neben ihren bunten Geschwistern dennoch nicht verblassen. Sie alle tragen eine gewisse Rätselhaftigkeit und Anmut in sich, die dazu animiert, die Bilder wieder und wieder und aus immer neuen Blickwinkeln zu betrachten. Plath gelingt es, die Bildhaftigkeit, die jedem Märchen inneliegt, zu visualisieren und Figuren und Orte, die märchentypisch nur mit wenigen Worten beschrieben werden, anschaubar zu machen.
„Bilder können so viele Bedeutungsschichten in sich bergen, von denen viele unsichtbar sind. Sie können so viel einfacher widersprüchliche Wahrheiten ausdrücken, vage Ängste und Hoffnungen, wortlosen Schmerz …“ (S. 48)
Gern hätte ich mehr über Julia Plaths Inspiration, ihre Interpretation und ihren Zugang zu den Märchen erfahren und neben den Anmerkungen Cornelia Funkes auch einige Gedanken der Illustratorin in der Sammlung gelesen.
Also: Braucht es eine weitere Märchensammlung? Wenn sie in einem so ansehnlichen Kleid daherkommt wie „Die Froschprinzessin. Märchen aus aller Welt“, in jedem Fall. Ein schönes Buch, das deutlich mehr zu bieten hat als die schon so oft gelesenen „Kinder- und Hausmärchen“.
Die Froschprinzessin. Märchen aus aller Welt. Kuratiert und kommentiert von Cornelia Funke. Illustriert von Julia Plath. Fischer Sauerländer. 2024. Ab 12 Jahren.
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