Man lernt nie aus

von | 13.03.2016 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Zeilenschwimmerin Ronja ist kein Fan von Geschichtsbüchern. Das liegt hauptsächlich an ihren Erfahrungen während der Schulzeit. Geschichtsbücher waren immer weitaus langweiliger, älter und unschöner als die meisten anderen Schulbücher, sogar die Textaufgaben in Mathematik und Physik waren spannender. Doch dieses Buch ist anders. 

GermanyMemoriesOfANation_dtÜber Geschichtsbücher

Geschichtsbücher. Das sind für mich grünbraune, schwere Klumpen mit dicht gedrängtem Text aus Namen und Daten mit einigen wenigen Schwarz-Weiß-Bildern in schlechter Qualität. 13 Jahre Schule und weitere Jahre mit Bibliotheksbesuchen haben diesen Eindruck immer wieder bestätigt. Und dann kommt dieses Buch daher…
„Germany – Memories of a Nation“ („Deutschland – Erinnerungen einer Nation“) ist durchaus ein schweres Buch, aber da enden die Ähnlichkeiten mit meinem festgeprägten Bild eines Geschichtsbuchs auch schon. Es ist weder grünbraun (sondern schwarz mit einer alten Version der Deutschen Nationalflagge darauf), noch ist der Text dichtgedrängt (sondern in anständiger Größe und gut lesbarer Schrift gesetzt). Natürlich enthält es Namen und Daten, doch dazwischen befindet sich verständlicher Inhalt! Wenn es wenigstens Schwarz-Weiß-Bilder hätte… Aber auch da: Nichts zu machen! Zahlreiche farbige (!) Bilder, große Bilder, qualitativ hochwertige Bilder. Mein Welt(geschichtsbuch)bild ist dahin.

Vergeblicher Kritikversuch

Meine Hoffnung war, einen anderen Kritikpunkt zu finden, um danach sagen zu können: „Ha! Dieses Geschichtsbuch ist doch nicht ernst zu nehmen!“ Ich versuchte etwas an der Person des Autors auszusetzen.
Neil MacGregor ist Brite. Kann ein Brite ein (soweit dies überhaupt menschenmöglich ist) objektives Bild von Deutschland zeichnen, wo doch die Beziehungen von Briten und Deutschen durch den Zweiten Weltkrieg teilweise immer noch stark belastet sind? Die Antwort: Ich weiß nicht, ob es jeder Brite könnte, doch Neil MacGregor kann es offenkundig. Sein Ton über die Deutschen ist durchgehend neutral. Die historischen Fakten werden weder beschönigt noch heruntergespielt.

Geschichte wird verständlich

Es ist eine ganz eigene Art, mit der MacGregor – ehemaliger Direktor der National Gallery und des British Museum – 500 Jahre deutscher Geschichte beschreibt. Anhand von Orten und Objekten verdeutlicht er nicht nur historische, sondern auch politische und gesellschaftliche Zusammenhänge und nimmt dabei innerhalb eines Kapitels oft auch Sprünge zwischen mehreren Jahrzehnten oder Jahrhunderten vor, ohne dass dabei die Verständlichkeit auf der Strecke bleibt. Im Gegenteil, es erleichtert das Verständnis sogar.
Wahrscheinlich ist es MacGregors Herangehensweise, die meine Begeisterung für dieses Geschichtsbuch geweckt hat. Denn es ist mehr als ein Geschichtsbuch, da es auch kunsthistorische und kulturwissenschaftliche Anteile enthält. Eigentlich logisch, da Kunst und Kultur immer in einem zeitlichen Kontext entstehen und nicht selten Politik und Gesellschaft beeinflussen bzw. von ihr beeinflusst werden.
MacGregors Buch macht einen sehr gut recherchierten Eindruck. Vielleicht ist es für „echte“ Historiker zu populär ausgerichtet, doch ich finde es bewunderns- und lobenswert, wenn jemand die Motivation und das Talent besitzt, fachwissenschaftliches Wissen an „Normalsterbliche“ zu vermitteln.

Ein Buch als Vermittler

GermanyMemoriesOfANation_EngNoch dazu trägt Neil MacGregor mit seinem Buch zur interkulturellen Verständigung bei, indem er damit einigen Bewohnern der englischsprachigen (und vor allem britischen) Welt Deutschland vielleicht etwas näher bringt. Daher wurde er 2015 auch mit dem Friedrich-Gundolf-Preis für Vermittlung deutscher Kultur im Ausland der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und aus gleichem Grund mit dem Deutschen Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung ausgezeichnet.
Aber nicht nur die Briten können die Deutschen durch dieses Buch besser verstehen lernen. Wir selbst können es auch. Durch „Germany – Memories of a Nation“ habe ich einige Dinge gelernt, die ich vorher nicht wusste. Manche Eigenheiten des heutigen Deutschlands, seiner Bewohner und ihrer Sprache haben jetzt einen Hintergrund bekommen, den ich vorher nicht kannte. Aber vor allem ist mir klar geworden, dass Geschichtsbücher nicht immer sterbenslangweilig sein müssen. Man lernt nie aus.

Englische Ausgabe: Germany – Memories of a Nation. Neil MacGregor. Allen Lane/Penguin Books. 2014
Deutsche Ausgabe: Deutschland – Erinnerungen einer Nation. Neil MacGregor. Klaus Binder (Übersetzer). C.H.Beck. 2015. Hier geht es zur deutschen Leseprobe.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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