Im April lief im bücherstädtischen #Meinungstheater „Nur eine Frau“. Bücherstädterin Michelle-Denise, Worteweberin Annika und Zeichensetzerin Alexa haben sich der schwer verdaulichen Kost gestellt und sich ihre Meinung gebildet.
Bücherstädterin Michelle-Denise: Der Ehrenmord an Hatun „Aynur“ Sürücü ging 2005 durch die Medien und sorgte für Fassungslosigkeit. Es war nicht der erste Mordfall dieser Art, aber der erste, der fortan den Begriff „Ehrenmord“ prägte. Bereits vor einem Jahr habe ich die Verfilmung dieses Falls im Fernsehen gesehen. Die Besonderheit dieses Dokudramas ist, dass die Protagonistin Aynur, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Stimme bekommt. Sie spricht aus dem Off und erzählt den Zuschauerinnen und Zuschauern die Chronologie ihrer Leidensgeschichte und erklärt die Gründe für ihre Handlungen sowie ihre Gefühle. Zerrissen zwischen dem Wunsch nach einem freien, selbstbestimmten Leben ohne Angst und der Liebe zu ihrer Familie, die sie einengt, versucht Aynur eine Balance zu finden. Jedoch stößt die junge Mutter immer wieder auf Widerstände und Gewalt seitens ihrer Familie.
Die filmischen Szenen werden an ausgesuchten Stellen äußerst emotional durch reale Sequenzen vom Tatort ergänzt, die die ermordete Aynur zeigen. „Nur eine Frau“ ist ein sehr ergreifender Film, den man nicht so schnell vergisst. So wie den Ehrenmord von Aynur.
Worteweberin Annika: „Nur eine Frau“ habe ich bei Erscheinen in einem kleinen Programmkino in Bremen gesehen. Ich war erschüttert von diesem Film, der uns Zuschauerinnen und Zuschauern die Geschichte einer jungen Frau näherbringt, in deren Familie die Ehre an erster Stelle steht. Sätze wie „Er wird mich später umbringen“ lassen uns erschaudern – dass die (tote) Aynur aus dem Off spricht und ihre Geschichte erzählt, erzeugt einen Sog und eine Nähe zu einer Frau, die sicherlich ein ganz anderes Leben lebte als die meisten Menschen vor dem Bildschirm.
Sätze wie „Er wird mich später umbringen“ sind aber auch das, was diesen Film zu schwerer Kost macht. Was für mich im Programmkino gut funktioniert hat, passte weniger gut in meinen Corona-Alltag. Denn als Fabelforscher Christian und ich den Film jetzt auf dem heimischen Sofa schauen wollten, wurde uns schnell klar: Das funktioniert für uns heute nicht. Dafür brauchen wir Ruhe, Muße und irgendwie auch starke Nerven. Trotzdem: Wer gerade ein bisschen mehr Kraft hat, sollte sich „Nur eine Frau“ nicht entgehen lassen – packend erzählt und schauspielerisch top bringt er uns eine Welt näher, die wir anders kaum verstehen können, und ein Schicksal, das bewegt. Der Film ist noch bis September in der ARD-Mediathek verfügbar.
Zeichensetzerin Alexa: Ich habe Aynurs Mord damals nur oberflächlich durch die Medien mitbekommen – und auch später verband ich mit ihrem Namen vor allem den Begriff „Ehrenmord“. Mit dem Film „Nur eine Frau“ ergab sich für mich eine Möglichkeit, mich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen – und jetzt sind da weitaus mehr Assoziationen. Aynur ist jetzt nicht „nur eine Frau“, die von ihrem jüngsten Bruder ermordet wurde, weil sie Schande über ihre Familie gebracht haben soll, sondern eine Frau, die für ihre Wünsche und Freiheit gekämpft und fragwürdige Traditionen durchbrochen hat. Aynur hat gezeigt, dass es möglich ist – auch als alleinstehende Mutter –, ein neues Leben zu beginnen, eins, das nicht von Männern bestimmt wird. Sie hätte es beinahe geschafft, ihrer Familie und insbesondere ihren gewalttätigen Brüdern zu entfliehen.
„Nur eine Frau“ ist ein sehr bedrückender Film, der mich dazu gebracht hat, mehr über Aynurs Geschichte zu recherchieren und mich mit Themen wie „Ehrenmord“ zu beschäftigen. Ein Film, der mich sehr traurig gemacht hat, weil er vor Augen führt, wie viel Gewalt Frauen erfahren müssen – bis zum Tod. Ein Film, der wirklich keine leichte Kost ist; ich habe ihn sehr angespannt geschaut, ich spürte Bedrohung, Angst und Sorge, sowohl was Aynur als auch ihren Sohn betrifft. Ich fragte mich, was aus ihm werden würde. „Nur eine Frau“ ist ein bedeutender Film, dem ich viele Zuschauer:innen wünsche.
Nur eine Frau. Regie: Sherry Hormann. Drehbuch: Florian Oeller. Mit Almila Bagriacik, Aram Arami, Merve Aksoy u.a. ARD. Deutschland. 2019. FSK: ab 12 Jahren.
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