Cornelia Achenbachs zweiter Roman „Nachtwanderung“ erzählt eine Geschichte über die Freundschaft, über unterschiedliche Wahrnehmungen und trügerische Erinnerungen. Worteweberin Annika hat mit dem Buch eine Reise zurück in die Schulzeit unternommen.
„Willst du meine beste Freundin sein?“ Eines Tages hat Kristen diese Worte auf eine Urlaubskarte gekritzelt und damit ausgerechnet Ines auserwählt. Die beiden Mädchen waren in ihrer Schulzeit unzertrennlich, doch mit 14 Jahren verschwand Kirsten dann einfach aus Ines‘ Leben, aus der Klasse, aus der Stadt. Trotzdem ist sie ihr geblieben, ist noch zwanzig Jahre später oft Angelpunkt ihrer Gedanken. Ines ist sich sicher: Auch heute noch wäre Kirsten die eine für sie!
Rätselhafte Erinnerungen
Beim Klassentreffen stehen sich die beiden inzwischen erwachsenen Frauen dann plötzlich gegenüber und müssen sich der Herausforderung stellen, ihre Erinnerungen in Einklang zu bringen. Was geschah damals bei der Nachtwanderung und warum? Was ist auf dem Schulfest am Abend vor Kirstens Abtauchen vorgefallen?
„Wollte sie überhaupt Kirstens Freundin sein? Wollte sie nicht vielmehr Kirsten selbst sein? Und wenn sie schon nicht Kirsten sein konnte – wäre es nicht leichter, sie selbst zu sein, wenn Kirsten nicht wäre?“ (S. 116)
Cornelia Achenbach erzählt in drei Teilen von der Gegenwart und der Schulzeit der beiden ehemals besten Freundinnen. Zuerst gibt sie aus Ines‘, dann aus Kirstens Perspektive die Geschehnisse bis zum Klassentreffen wieder, wobei der Kern – also das, was den Bruch auslöste – ausgespart bleibt. Immer wieder kann man aber schon im ersten Teil erahnen, dass Ines‘ Wahrnehmung und Erinnerungen im Widerspruch zu anderen Perspektiven stehen. Das erzeugt Spannung und einen Sog beim Lesen.
Lose Fäden
Schnell wird klar, dass diese Freundschaft und ihr Ende die beiden Frauen noch in der Gegenwart nachhaltig belastet. Ist das übertrieben? Tatsächlich habe ich mich das beim Lesen immer wieder gefragt. Freundschaften kommen und gehen im Leben. Allerdings hinterlassen sie nur selten so viele lose Fäden, die sich allein nicht entwirren lassen.
„Ich habe mein Handy voll Nummern, ich habe fünf Julias und acht Kathrins gegen die Einsamkeit. Ich kenne sie kaum, aber […] sie wären für mich da, wenn es hart auf hart käme. Ich habe mehr als dich altes Gespenst!“ (S. 117)
Doch die alten Gespenster lassen sich eben nicht vertreiben. Sie sind das Zentrum des Textes, um das sich alle Überlegungen der Protagonistinnen drehen. Sympathisch wurden mir die beiden Frauen durch das ständige Kreisen um sich selbst und ihre Erinnerung jedoch nicht. Das verhindert aber auch, dass der Text kitschig wird.
Back to the 90s
Cornelia Achenbach gelingt es außerdem vortrefflich, aus diesen 280 Seiten eine Zeitkapsel zu zimmern: Jugend in den 90ern. Und auch wenn man wie ich später geboren ist, mit Ines und Kirsten erinnert man sich an die Abende auf Klassenfahrt, den Geruch der Schulflure, an den Wunsch, dazuzugehören. Die Autorin breitet in den Rückblenden das Panorama der Pubertät vor den Leser*innen aus und weckt Erinnerungen, die zeigen, dass die Jugend wohl immer in der Gegenwart nachwirkt. Dadurch wird für mich aus „Nachtwanderung“ insgesamt ein runder, solide erzählter Roman, der mich gut unterhalten und in mir den Wunsch geweckt hat, meine beste Freundin aus Schultagen wieder einmal anzurufen.
Nachtwanderung. Cornelia Achenbach. Wunderraum. 2022.
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