„Nix da mit Konförderdingsbums; wir wollen Westen werden!“

von | 18.12.2015 | Belletristik, Buchpranger

Mit „89/90“ legt Peter Richter einen autobiografischen Wenderoman vor, der die Thematik aus einem anderen Licht beleuchtet. Aus dem Licht eines Fünfzehn- bzw. Sechszehnjährigen. Dieses locker leicht geschriebene Coming of Age-Buch erhielt zu Recht eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis, aber beginnen wir, wie es sich gehört: Vorne!

Sommer 1989: Der Protagonist erlebt die Zeit wie die meisten seiner Altersgenossen. Hauptsächlich nachts im Freibad oder tagsüber auf der „Rue“, wo sie die „Flics“ (Polizisten) provozieren. Zwischendurch Schule, Einweisung in die sozialistische Produktion einer Zigarettenfabrik, das letzte Wehrlager aller Zeiten und viel wichtiger: Das Gründen einer Band. Doch zunächst muss ein Name her, der immer wieder verworfen und durch einen noch besseren ersetzt wird. Da bleibt keine Zeit, um auch noch ein Instrument spielen zu lernen.

Schon gar nicht, wenn man die L. kennenlernt. Eine echte Kommunistin. Nicht, weil sie es sein muss, sondern weil sie es sein will. Etwas Exotischeres kennt der Protagonist bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Da kann nicht mal der Transvestit mithalten, der in der Nachbarschaft wohnt.

Doch sein Kumpel S. kennt sich aus, hat Kontakte und vor allem den Durchblick. Man hangelt sich von Ereignis zu Ereignis. Von einem illegalen Konzert zum nächsten Treffen in der Plattensiedlungskirche, wo der dicke Hippie „Kiste“ Suppe kocht.

„Im Grunde waren wir von Anfang an in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es bei uns trostlos war, aber es war eben bei uns – und das war nun einmal der Ort, wo das Abenteuer unseres Aufwachsens stattfand.“

Aber die Stimmen werden lauter. Die Stimmen derer, die vor allem Reisefreiheit fordern und diese schlussendlich auch bekommen. Plötzlich steht er da, der Bundeskanzler. Er steht da neben dem kleinen grauen Männchen „Modrow“ und nennt alle Bürger der DDR „seine Freunde“. Und plötzlich stehen auch sie da… mit ihren Bomberjacken, in denen weiße Kugelschreiber stecken und mit ihren kahlrasierten Köpfen. Auch sie wittern ihre Chance.

Ein Jahr der absoluten Anarchie beginnt. Die Behörden (wenn sie denn noch welche sind) kennen ihren Standpunkt nicht oder haben ihn ein wenig nach rechts verlagert. In alldem Gewirr besetzt man dann eben ein paar Häuschen oder wenigstens eine Wohnung, aus denen dann Klubs werden, in denen unglaublich viel geraucht, getrunken und philosophiert wird.

Fast nebenbei bricht der Krieg aus. Der Krieg zwischen Rechts und Links und dennoch bleibt er weitgehend unbemerkt. Die Erwachsenen haben ganz andere Probleme. Ist ihr Haus noch etwas wert? Würden sie morgen noch Arbeit haben? Wo sind denn die ganzen Verwandten und Nachbarn hin? In den Krankenhäusern gibt es keine Ärzte mehr. Alle drüben! Aber was soll man tun? Am nächsten Morgen steht die Mathearbeit an und Staatsbürgerkunde… gibt es nicht mehr. Die Lehrerin dazu auch nicht.

Peter Richter schafft eine unglaublich lebendige Vergangenheit und dabei erzählt er nicht schon wieder dieselbe Geschichte. Er erzählt von einer in sich geschlossenen Welt, die ihre ganz eigene Sichtweise auf die Dinge hatte. Er erzählt ganz nachvollziehbar, wie es dazu kommen konnte, dass sich plötzlich ein so großer Teil der Bevölkerung nach so weit rechts orientierte. Und er erzählt davon, was zwischen den Zeilen geschah.

Dabei gibt es zwei Eigenheiten, die dieses Buch aufweist. Es kommt komplett ohne wörtliche Reden aus und das ziemlich gut. Der Autor versteht es dennoch flüssig und verständlich einzubetten, was wer wann gesagt hat.

Die zweite Besonderheit ist, dass sehr viele Personen aus dem Umfeld des Protagonisten nur mit einem Buchstaben abgekürzt werden. Der S., die L., der große M. usw. Je mehr Seiten man liest, desto stärker muss man überlegen, wer nun gemeint war. Es gibt zwar auch einige, die mit Spitznamen oder Eigenschaften betitelt werden, aber dennoch gerät man immer wieder ins Stocken. Davon abgesehen ist das Buch eines der besten, die ich je gelesen habe. Die Kombination aus Geschichte, jugendlicher Sichtweise, Authentizität sowie den unzähligen (teils äußerst witzigen) Anekdoten, macht daraus ein echtes Lesevergnügen.

Marco

89/90. Peter Richter. Luchterhand Literaturverlag. 2015.

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