Wie erzählt man vom Astronaut*innenleben im Weltall, ohne selbst jemals Schwerelosigkeit erlebt und auf den blauen Planeten hinabgeblickt zu haben? Der Britin Samantha Harvey gelingt das im mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Umlaufbahnen“ auf beeindruckende Art. – Von Worteweberin Annika
Sechs Astronaut*innen umrunden auf der Internationalen Raumstation neun Monate lang die Erde. Einen Tag auf diesem „letzten grenzenlosen Außenposten“ (S. 106) beschreibt Samantha Harvey: Dabei geht es ihr nicht um spektakuläre Weltraumspaziergänge oder bahnbrechende Entdeckungen, sondern darum, sich heranzutasten: An die besonderen Lebensumstände der Astronaut*innen, aber auch an unser Leben auf einem einzigartigen Planeten. Harvey und die Figuren in ihrem Roman wissen nämlich, „dass man eine Sache umso besser einschätzen kann, je weiter man sich von ihr entfernt“ (S. 88). Und so gelingt es der Autorin, aus dem Weltall die Erde neu zu betrachten: Klimaungerechtigkeit, Machtspielchen, den Irrsinn des Fortschritts, das Verlangen nach mehr – diese und viele weitere Probleme entlarven die Wissenschaftler*innen mit ihrem exponierten Blick.
„Sie sind Menschen mit einem göttlichen Ausblick, und das ist Segen und Fluch zugleich.“ (S. 121)
Einige besondere Ereignisse prägen den erzählten Tag dann allerdings doch: Ein bemanntes Raumschiff auf dem Weg zum Mond zieht an der ISS vorbei, sodass die ISS-Besatzung nicht mehr der letzte Außenposten der Menschheit ist. Zeitgleich braut sich im Pazifik ein Super-Taifun zusammen, den die Figuren zwar fotografieren können, um wichtige Daten zur Erde zu senden – aber der sich anbahnenden Katastrophe stehen sie hilflos gegenüber.
Auch sonst ist der Abstand zu ihrer gewohnten Umgebung auf der Erde riesig. Das Leben auf der Raumstation können sie nach Hause nicht beschreiben, gewinnen gleichzeitig Einsichten in ihren früheren Alltag, die sie auf der Erde nie erhalten hätten. Sie verändern sich.
„Und Tag für Tag lösen sich die Leinen zu ihrem bisherigen Leben eine nach der anderen, und alles, was sie nun sind, ist eine neue Erfindung.“ (S. 132)
Um den Leser*innen das Leben „im großartigen, unglaublichen Hinterhof der Erde“ (S. 9) verständlich zu machen, greift Harvey immer wieder auf eine Schiffs-Allegorie zurück: „[W]ir sind Seefahrer auf dunkler, gefährlicher See, ohne unser Schiff würden wir ertrinken.“ (S. 19) Aber sie macht auch deutlich, wie immens sich die Erfahrungen im All von denen von Seefahrer*innen unterscheiden, sei es beim Schlafen, beim Toilettengang oder hinsichtlich der ständigen körperlichen und geistigen Degeneration, die das Leben auf der ISS mit sich bringt.
Denn die Astronaut*innen müssen täglich mehrere Stunden Sport treiben, und verlieren in der Schwerelosigkeit dennoch an Kraft, Körpergefühl und Konzentrationsfähigkeit. Zugleich wissen sie, dass sie vor allem Daten liefern, um den Fortschritt der Raumfahrt zu ermöglichen. Aber sie sind auch von einer großen Liebe getrieben.
„Er hatte nicht gewusst, wie groß es war, das Herz. Und wie verliebt er in einen Gesteinsbrocken sein konnte; so heftig und lebensbejahend ist seine Liebe, dass sie ihn nachts wach hält.“ (S. 153)
Samantha Harvey greift im Roman auf eine auktoriale Erzählstimme zurück, die verallgemeinernde Aussagen treffen kann und zugleich in die Innenperspektiven aller Astronaut*innen, durch Zeit und Raum springen kann. Sie habe, dem Weltraum angemessen, „elastisch erzählen“ wollen, so Harvey in einem Interview.
Und tatsächlich verschwimmen auf der Raumstation die Grenzen: Ländergrenzen sind von hier oben nicht auszumachen, auch die nationalen Konflikte werden an Bord nicht ausgetragen – auch wenn Regierungen verbieten wollen, dass die russischen Kosmonaut*innen die amerikanisch-europäisch-asiatische Toilette nutzen und vice versa. Die Figuren selbst haben das Gefühl, einander nicht nur die gesamte Menschheit repräsentieren zu müssen, sondern richtiggehend miteinander zu verschmelzen, wie die Körperteile ihrer Raumstation zusammenzuwirken.
Dass es einer Autorin, die noch nie selbst im Weltraum war, gelingt, diese Perspektiven einzunehmen und diese Erfahrungen zu schildern, ist beeindruckend. Harvey findet durchgängig poetische, kraftvolle Vergleiche und Metaphern für die Raumfahrt, die das Hochtechnische mit Gefühl beleben. Dank umfangreicher Recherche und viel Mut ist ihr Unterfangen mehr als gelungen: „Umlaufbahnen“ ist ein Weltraumroman, wie es ihn noch nicht gegeben hat. Wer Science-Fiction sucht, ist hier nicht gut beraten, aber wer die Erde liebt und sie verstehen möchte, sollte unbedingt zu diesem Buch greifen, lesen, „Da liegen. Und vom Weltraum träumen.“ (S. 30)
Umlaufbahnen. Samantha Harvey. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv. 2024.



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