Wer kennt sie nicht, die Geschichte um Alice, die sich (Uhr-)plötzlich in einem fremden, völlig verrückten Land wiederfindet? So mancher hat sich bereits ein Bild vom Reich der Herzkönigin, des verrückten Hutmachers und der Grinsekatze gemacht. Buchstabenakrobatin Melanie hat sich einige Neuauflagen der fantastischen Erzählung angesehen.
Am 04. Juli 2025 ist es genau 160 Jahre her, dass Alice sich erstmals durch den Kaninchenbau ins Wunderland verirrte – beziehungsweise, dass die Erzählung „Alice im Wunderland“ des britischen Schriftstellers Lewis Carroll erstmals veröffentlicht wurde. Das Kinderbuch zählt zu den Klassikern der Weltliteratur und wurde seit Erscheinen von unzähligen Künstlerinnen und Künstlern illustriert, darunter Salvador Dalí, Tove Jansson und Yayoi Kusame. In der Ausstellung „It’s Always Tea-Time“ des LesArt, dem Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur, wurden 2017 Illustrationen von 72 dieser Kunstschaffenden ausgestellt.
Bilder, die die Zeit überdauern
Vorgänger all dieser Illustrationen war John Tenniel. Nachdem Lewis Carroll seine erste handgeschriebene Fassung selbst illustrierte, war Tenniel der erste, der Alice, das weiße Kaninchen, die Raupe und all den anderen skurrilen Gestalten des Wunderlands illustrierte. Dass seine schwarz-weißen Zeichnungen einen großen Anteil zum Erfolg des Buches beigetragen haben, halte ich für sehr wahrscheinlich. Unbestritten ist in jedem Fall, dass sie einen großen Einfluss auf alle späteren Umsetzungen und Verarbeitungen in Film, Fernsehen und auf den Bühnen hatten und haben.
Der LiWi Verlag hat 2024 eine Ausgabe von „Alice im Wunderland“ herausgegeben, die nicht nur die erste Übersetzung ins Deutsche von Antonie Zimmermann aus dem Jahr 1869, sondern auch die Bilder von John Tenniel aus der Originalausgabe enthält. Leider sind gerade die größeren Abbildungen zum Teil stark verpixelt und wirken dadurch unscharf. Eine nachträgliche Bearbeitung der Bilder zur Verbesserung der Bildschärfe wäre bestimmt möglich gewesen und hätte das Anschauen noch vergnüglicher gemacht. Dennoch ist es sehr interessant, die alten Bilder anzuschauen und in ihnen Vorlagen für so viele Adaptionen der Alice-Erzählung zu entdecken.
Wandelbares Wunderland
Auch die französische Künstlerin Rébecca Dautremer nahm sich Carrolls Klassiker an und hat ihm für den Splitter Verlag ein neues Antlitz verliehen. Wie viele ihrer Vorgänger übernahm auch sie die großartige Übersetzung Antonie Zimmermann, die von Martin Budde behutsam an die moderne Rechtschreibung angepasst wurde. In puncto Illustration setzt Dautremer jedoch eigene Maßstäbe, so trägt die sonst so häufig mit langen, blonden Locken daherkommende Alice bei Dautremer beispielsweise einen dunklen Bob mit Mikropony. Eine Hommage an Alice Liddell, die Lewis Carroll als Vorbild für seine Hauptfigur diente.
Auch dem Wunderland verleiht die Französin ein Aussehen, das sich deutlich von der ursprünglichen Fassung unterscheidet: Das Innere des Kaninchenhauses erinnert mit seinen langen Backsteinwänden, der gewölbten Decke, den vielen Deckenlampen und nummerierten Gittertüren an eine Lagerhalle, auf anderen Buchseiten sind Fotografien und Poster, Kühlschränke, ein (altmodisches) Wandtelefon oder ein Aussichtsfernrohr zu entdecken.
Der Hutmacher, ein kräftiger Mann mit dunkler Haut, Ohrring und türkisem Sakko, stammt ganz gewiss nicht aus Carrolls und Tenniels Zeit und findet sich zur Teestunde unter einem großen Sonnenschirm ein – es scheint, als säße er gemeinsam mit dem Märzhasen und dem Siebenschläfer umgeben von zahllosen leeren Klappstühlen, Teebeuteln und Teetassen an einem Strand. Andernorts erinnern ein Pfahlhaus und ein langer, auf hohen Stelzen gebauter Steg an eine Sumpflandschaft. Die Spielkarten, dazu verdonnert, die Rosen der Königin rot zu färben, haben Arme und Beine aus Metall, Hände und Gesicht eines Menschen und gehen statt mit Pinsel mit einem Drucksprüher ans Werk.


Dautremers Illustrationen sind eine Mischung aus kolorierten Doppelseitenillustrationen, farbigen Bildern, die sich über eine Buchseite erstrecken und kleineren und größeren Bleistiftzeichnungen, die mal eine einzelne Figur, mal einen Prozess abbilden, beispielsweise die Verwandlung des Wickelkindes in ein Schwein. Die skurrilen Szenen und schillernden Figuren verleihen dem altbekannten Wunderland eine einzigartige Atmosphäre und geben der bekannten Geschichte ein herrlich frisches Aussehen. Dazu kommen Spielereien innerhalb der Typografie und Verzierungen der Kapitelüberschriften.
Rébecca Dautremers Adaption von „Alice im Wunderland“ kann ich jedem ans Herz legen – auch dann, wenn im Bücherregal schon ein, zwei, drei oder mehr Alice-Ausgaben stehen.
Carroll für die Kleinsten
Gereimt – in siebzehn Versen mit je vier Zeilen – erzählt Cornelia Boese die abenteuerlichen Erlebnisse von Alice nach. In der Reihe „Klassiker für Kleine“ erschien 2024 – wie sollte es anders sein? – auch eine Fassung von „Alice im Wunderland“. Für mich war es ein großer Spaß, Carrolls Geschichte durch die Reime von Boese auf ganz andere Art und Weise zu lesen. Die Reime sind einfach, aber nicht platt, lassen sich prima vorlesen und geben trotz ihrer Kürze einen gelungenen Einblick ins Wunderland:
Auf einem Ast sitzt eine Katze
mit einer großen Grinsefratze.
Es scheint unmöglich, ist doch wahr:
Urplötzlich wird sie unsichtbar!
Die Illustrationen der spanischen Malerin Zuriñe Aguirre erstrecken sich, mit zwei Ausnahmen, jeweils über eine Doppelseite des Pappbilderbuchs und laden Klein und Groß zum Entdecken ein. Aguirre hat ein Faible für Muster und Farben, die sie zu einem bunten Ganzen kombiniert. Trotz der Vielfarbigkeit der Seiten und der Verbindung von Punkten, Karos, Blümchen und Streifenmustern wirken die Illustrationen nicht unangenehm überladen, denn Aguirre setzt auf gedeckte Farben. Ungewöhnliche Blickwinkel, die Notwendigkeit, das Buch hin und her zu drehen und verspielte Details runden den (Vor-)Lesespaß ab und machen diese Interpretation des Klassikers zu einem echten Vergnügen.

„Zu spät, immer zu spät!“
Benjamin Lacombe hat sich bereits 2015 mit dem Alice-Stoff auseinandergesetzt und eine viel gelobte Ausgabe des Kinderbuches geschaffen. Zehn Jahre später kehrt er mit „Das Weiße Kaninchen kommt zu spät“ ins Wunderland zurück.
Zu spät kommt das weiße Kaninchen schon zu seiner Geburt und so geht es auch weiter: zu spät fürs Frühstück, zu spät in der Schule und auch für das Bewerbungsgespräch um die Stelle als Haushofmeister der Herzkönigin kommt das weiße Kaninchen zu spät. Doch stets ist es aus gutem Grund zu spät, denn es trifft auf sonderbare Gestalten, die ihm helfen, erwachsen zu werden und zu lernen, dass es viel Wichtigeres gibt, als der Zeit hinterherzujagen.
Lacombe erzählt eine zarte Geschichte über Anti-Konformismus, die uns zurück in Lewis Carrolls Wunderland und zu seinen kuriosen Bewohnerinnen und Bewohnern bringt. Grinsekatze, Herzkönigin, Märzhase und Hutmacher sind ebenso von der Partie wie die verirrte Alice. Dazu kommen einige neue Figuren, wie die logikverliebte Charlie, die das Kaninchen aus der Bahn wirft. Der Text ist humorvoll und ermutigt, auf den eigenen Rhythmus zu vertrauen und innezuhalten, um das Leben zu genießen. An die herausragende Erzähl- und Fabulierkunst von Lewis Carroll reicht die Geschichte um das weiße Kaninchen nicht heran, dafür verzaubern und begeistern jedoch die wunderschönen Lacombe-typischen Illustrationen.
Zwanzig Gouache- und Ölillustrationen durchziehen das großformatige Buch und zeigen ein weiteres Mal das Talent des Illustrators. Anders als in seiner Alice-Adaption, für die Lacombe eine düstere Grundstimmung wählte, strahlen in „Das Weiße Kaninchen kommt zu spät“ viele Seiten Wärme, Liebe und Geborgenheit aus. Die goldgelbe Lichtstimmung, satte Grün- und Brauntöne und allem voran die entzückenden Wunderland-Bewohner*innen machen dieses Bilderbuch zu einer Wohlfühl-Lektüre. Wer den Blick von den niedlichen Figuren lösen kann, entdeckt um sie herum eine detailverliebte Welt, die Rätsel und Geheimnisse enthält, die beim Immer-wieder-Ansehen entdeckt werden wollen.
Ein schönes Buch für alle ab acht Jahren, das inmitten vertrauter Figuren daran erinnert, das Leben zu genießen – so kehre ich gern ins Wunderland zurück.
- Alice im Wunderland. Lewis Carroll. Mit den Bildern der Originalausgabe von John Tenniel. Aus dem Englischen von Antonie Zimmermann. Literatur- und Wissenschaftsverlag. 2024.
- Alice im Wunderland. Lewis Carroll. Illustriert von Rébecca Dautremer. Aus dem Englischen von Antonie Zimmermann. Splitter Verlag. 2024.
- Alice im Wunderland. Lewis Carroll. In Reimen nacherzählt von Cornelia Bosse. Illustriert von Zuriñe Aguirre. Teil der Reihe „Klassiker für Kleine“. Coppenrath. 2024. Ab 3 Jahren.
- Das weiße Kaninchen kommt zu spät. Benjamin Lacombe. Aus dem Französischen von Nicola T Stuart. Jacoby & Stuart. 2025. Ab 8 Jahren.
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