In meinem ersten Artikel zu schlechter Literatur habe ich mich an einem einzigen Buch abgearbeitet, das seitdem in seiner Schlechtigkeit ungeschlagen ist. Nun möchte ich eine Zusammenfassung darüber geben, wie sich meine „Studie der schlechten Literatur“ weiter entwickelt hat. – Von Zeilenschwimmerin Ronja
Seitdem ich „Ein Licht in der Dunkelheit“ gelesen habe, sind über eineinhalb Jahre vergangen und diesem Roman sind seither einige andere gefolgt, die auf die eine oder andere Weise schlecht genug waren, aber keiner davon reicht an die Schlechtigkeit des ersten heran. Wenn ihr jetzt neugierig seid, findet ihr den ersten Bericht hier. Außerdem könnt ihr euch auch einen kleinen Exkurs zu einem schlechten Film antun.
Im ersten Teil dieses Berichts behandelte ich folgende Werke: „H2O – Das Sterben beginnt“ von Ivo Pala und „Sternenpfad“ von Ann-Kathrin Karschnick. Nun folgen „Der Rote“ von Bernhard Kegel, „Fabula“ von Christoph Marzi sowie drei Bücher von Scarlett Thomas. Vertreten sind damit die Genres Fantasy, Thriller bzw. Wissenschaftsthriller (wenn man es so nennen möchte, dazu später mehr) und im Falle von Scarlett Thomas‘ Werken etwas, das viele Erwartungen weckt und keine bedient. Falls euch der Name Christoph Marzi etwas sagt, seid ihr vielleicht überrascht, ihn hier zu lesen. Dazu kann ich nur sagen: Wir – das heißt meine Forschungskollegin/Mitbewohnerin, Bücherstädterin Kathrin, und ich – waren auch überrascht.
Januar 2019/Neun Monate nach Rose*
Wie bereits zu Beginn angedeutet, erscheint es mir fraglich, ob Wissenschaftsthriller der richtige Ausdruck für „Der Rote“ ist. Es geht um Wissenschaft, aber ein Thriller ist es nicht. Wissenschaftsroman trifft es eher, denn es passiert herzlich wenig Spannendes. Warum ich vor der Lektüre von einem Krimi/Thriller ausgegangen bin? Den zweiten Teil mit der Hauptfigur Hermann Pauli kannte ich bereits („Ein tiefer Fall“ war Uni-Lektüre) und das war eindeutig ein Krimi. Ein derartiger Genresprung mit der gleichen Hauptperson ist doch sehr ungewöhnlich. Der Grund, warum wir „Der Rote“ von Bernhard Kegel auswählten, war übrigens die penetrante Eigenwerbung im Folgeband, der gefühlt auf jeder zweiten Seite auf „den Roten“ verwies.
Hermann Pauli ist Wissenschaftler und macht Urlaub in Neuseeland, als durch einen Erdrutsch ein kleiner Tsunami seinen Urlaubsort trifft und tausende von Kalmaren aus der Tiefsee hochwirbelt. Darunter auch „den Roten“ – einen Kalmar von so gigantischer Größe, dass Pauli auch nur dessen mögliche Existenz bis dahin rundweg abgestritten hat.
Zuerst das Lob: „Der Rote“ besitzt einen roten (Haha!) Faden, enthält keine schwerwiegenden logischen Fehler und wurde mit einem bereiteren Wortschatz in einem grundlegend lesbaren Stil geschrieben. Und nun das große Aber: Es passiert einfach nichts! Seitenlang tut Pauli nichts anderes, als am Strand angespülte Kalmare zu messen, an ihnen zu lecken (kein Scherz!) und sie einzutuppern. Der Rote spielt erst ab Seite 224 wirklich eine Rolle (120 Erwähnungen ab diesem Zeitpunkt) und das nicht als Bedrohung, sondern als schützenswertes Wesen, das am Ende aber nicht mehr geschützt werden muss, weil es ohnehin stirbt (Ups, Spoiler). Zuvor geht es hauptsächlich um Wale (und „die unglückliche Barbara mit ihren reizenden Sommersprossen“, S. 245). Paulis Gegenspieler, ein Kryptozoologe,** taucht erst ganz zum Schluss auf und bis auf ein paar wissenschaftliche Reibereien löst sich alles in Wohlgefallen auf.
Klick. Klick. Klick.
„Klick“ ist einer der Begriffe, mit dem Walgeräusche beschrieben werden. In diesem Roman ist es der einzige Begriff, der dazu verwendet wird. Und das gleich 99 Mal (nicht ausgeschlossen, dass es noch mehr waren). Noch dazu kommt ein „Klick“ selten allein und so ging mir das ständige „Klick. Klick. Klick“ gefolgt von „Der Rote“ ziemlich auf den Keks. Die genauere Beschreibung der Klicks hat das nicht besser gemacht: „Zwei Millisekunden lang, mal lauter, mal leiser, ein Breitbandklick mit zwei Frequenzmaxima bei 4,0 und 5 Kilohertz und einer Reichweite von etlichen Kilometern.“ (S. 39)
Tatsächlich lassen sich beim Vergleich mit den zuvor untersuchten Werken einige Ähnlichkeiten feststellen: 1) Genauso wie in „H2O – Das Sterben beginnt“ beansprucht auch „Der Rote“ für sich, dass das alles realistisch und nicht wie im Film ist. 2) Charaktereigenschaften der Figuren sind eher schwach ausgeprägt. Die Hauptfigur wird hauptsächlich durch Musikverweise (20) und ihre Eigendarstellung als „wilder Mann und scharfer Analytiker“ (S. 14) charakterisiert, wobei ersteres fast willkürlich erscheint und letzteres durch sein langweiliges und starrköpfiges Verhalten widerlegt wird. 3) Die zuvor bereits erwähnte „unglückliche Barbara“ ist eine klischeehaft kraft- und machtlose Frau, die in Gefahrensituationen zu nichts zu gebrauchen ist und natürlich (trotz einer sich gerade erst auflösenden Beziehung) dem „wilden Mann und scharfen Analytiker“ verfällt. Ganz davon zu schweigen, dass Pauli in der Gegenwart zweier betrunkener Frauen zuerst daran denkt, sich mit ihnen zu „amüsieren“ (vgl. S. 303).
„Aber nichts geschah, niemand interessierte sich für ihn.“ (S. 170)
Die wohl auffälligste Ähnlichkeit aller Romane ist jedoch der Hang zu manchmal geradezu absurden Stilblüten. Auch in „Der Rote“ drückt sich das in unpassenden oder einfach schrägen Metaphern („Sein Körper war übersät mit Leuchtorganen, als hätte sich das Tier mit Lichterketten für eine schräge Unterwasserparty ausstaffiert.“ S. 107), kleinteiligen Beschreibungen von unwichtigen Dingen („Er öffnete ein Schränkchen über der kleinen Spüle, nahm einen bunt bedruckten Karton heraus und schüttete Müslimischung in eine hellblaue Plastikschale.“ S. 153), kaum verstecktem Eigenlob und einer plumpen Metaebene („Wer führte hier Regie? Die Aufführung war umwerfend, die Akteure grandios, das Bühnenbild spektakulär, all das hätte ein großes Publikum verdient. Aber im Zuschauerraum saß nur er allein.“ S. 185) und grundlegend viel zu vielen Adjektiven aus.
Manches davon mag auch nur Geschmacksfrage sein, aber wenn fehlende Spannung ohne ausgleichende sprachliche und/oder geistige Tiefe in einem Roman auftritt, bin ich einfach nur gelangweilt. Oder um mich wieder einmal an den Worten des Autors zu vergreifen: Dieser Roman steht für mich nicht „auf dem Siegertreppchen des struggle for life“ (S. 380).
April 2019/Ein Jahr nach Rose
Bücherstädterin Kathrin hatte – nachdem sie zuvor von Christoph Marzis Reihe „Die Uralte Metropole“ sehr angetan gewesen war – „Fabula“ mit großen Hoffnungen begonnen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie mich in diese Lektüre einschloss und … nun, was soll ich sagen? Wir dachten, die Musik- und Fandomverweise in „Der Rote“ und „Sternenpfad“ hätten uns gestört. Doch das ist nichts gegen die 182 Musik- und Filmverweise von Marzi. In dem einen anderen Roman, den ich bisher von ihm gelesen hatte („Die wundersame Geschichte von Faye Archer“), kamen davon auch einige vor – waren allerdings dadurch in der Geschichte verankert, dass Faye Archer Musikerin ist. In „Fabula“ kann davon nicht im Entferntesten die Rede sein.
Colin Darcy sieht sich gezwungen, in sein Elternhaus zurückzukehren, da sowohl seine Mutter als auch sein Bruder verschwunden sind. Er trifft seine Jugendliebe wieder und lässt seine Fähigkeit, Geschichten wahr werden zu lassen, aufleben. Es tauchen einige schräge Gestalten auf und dennoch passiert über lange Strecken nicht so recht etwas. Das hat bei uns ein gewisses „Kegel-Feeling“ geweckt. Außerdem habe ich bereits vergessen, wie es ausgeht.
„Er spürte den Zorn in sich, der rot und orange und gelb war.“ (S. 448)
Da ich mich bemühe, mit etwas Positivem anzufangen, beginne ich ganz unorthodox mal mit unserem Fazit: Dieses Buch ist wie ein billiger Grießbrei: Nicht schlecht, aber man hat schon bessere gegessen. Es ist wie bei den vorigen Büchern auch schon: Handlungsstrang nachvollziehbar (wenn auch durch zahlreiche Rückblenden verwirrend gestaltet) und Sprache grundsätzlich solide. Aber: Es mangelt an Spannung und obwohl hin und wieder durchscheint, dass Marzi sprachlich mehr leisten kann, sind die Formulierungen genauso oft enttäuschend: „Sie ergriff seine Hände. Beide.“ (S. 392) Oder auch: „noch viel gleichzeitiger“ (S. 392). Wenn jemand die Hände – Mehrzahl – von jemandem ergreift, sind es natürlich immer zwei, solange es kein Alien ist, und nichts kann gleichzeitiger als gleichzeitig sein!
Besonders ärgerlich waren beim Lesen allerdings die unzähligen Wiederholungen. Nicht nur wurden penetrant Musik- und Filmverweise vorgebracht, sondern ebenso ständig die Liedzeile „Tie a yellow ribbon round the ole oak tree“ als Erinnerung aufgerufen. Fast genauso oft war die Rede von Colins „London-Leben“ und auch ansonsten wurde alles wiederholt, was nicht hätte wiederholt werden müssen. Dachte der Autor, seine Leser*innen könnten sich schon zwanzig Seiten später nicht daran erinnern? Oder hat der Autor selbst vergessen, dass er bereits darüber geschrieben hat? Doch was hat dann das Lektorat dabei gedacht? Nein, ehrlich: Was hat sich das Lektorat dabei gedacht?!
„Was in aller Welt wollen Sie von mir?“ (S. 289)
Manchmal hatte ich auch den Eindruck, eine Formulierung soll witzig sein, funktioniert aber nicht so, wie Marzi es sich erhofft hatte. Oder liegt es nur daran, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits genervt war? Beurteilt es gern selbst anhand dieses Beispiels: „Danny zupfte sich am Bart, was ihn einen kurzen Moment lang wie das Kind erscheinen ließ, das er einmal gewesen war, wenngleich mit der Einschränkung, dass er als Kind natürlich keinen Vollbart gehabt hatte.“ (S. 398)
Im Kontext der ansonsten sehr fantasievollen, wenn auch nicht gerade mitreißenden Geschichte, war aber vor allem das Auftauchen einzelner etwas derberer oder „erwachsenerer“ Ausdrücke nicht nur völlig überraschend, sondern fühlte sich mindestens ebenso unpassend an. „Fabula“ erweckt einen fast zusammengestückelten, unfertigen Eindruck. Ein Roman, der andeutet, was theoretisch möglich wäre, aber weit davon entfernt ist, diese Verheißungen zu erfüllen. Das Versprechen zu Beginn des letzten Kapitels wurde allerdings eingelöst: „10. Kapitel – In dem es richtig losgeht und irgendwann sogar vorbei ist.“ (S. 451)
August 2019/Über ein Jahr nach Rose
Eigentlich hatten Buchstaplerin Maike, Bücherstädterin Kathrin und ich uns nur den Spaß machen wollen, drei Bücher derselben Autorin (Scarlett Thomas) zur gleichen Zeit zu lesen. Wir konnten nicht ahnen, dass unser Urteil über alle Romane am Ende gleich ausfallen sollte. Die betreffenden Werke sind: „Troposphere“, „The Seed Collectors“ und „Das Ende der Geschichten“.
Alle drei Romane hatten durch ihre Klappentexte unsere Aufmerksamkeit geweckt und versprachen mysteriöse Geschehnisse, abstruse Phantastik und mehr. Am Ende hatte ich scheinbar mit „Troposphere“ noch Glück, da hier wenigstens tatsächlich Handlung und auch der versprochene phantastische Anteil enthalten war, während sich Maike und Kathrin durch „Geschichten ohne Geschichte“ quälten.
Unsere Anklagepunkte lauten wie folgt: 1) Mit durchaus anzurechnendem überzeugenden sprachlichen Stil besteht ein großer Teil der Romane nur aus anstrengendem und unverständlichem pseudointellektuellem Geschwafel (von philosophischen bis zu astrophysikalischen Theorien). 2) Damit einhergehend möchten die Romane den Eindruck vermitteln, eine Botschaft zu haben, sind jedoch eigentlich nichtssagend. 3) Ganz dem Motto „Geschichten ohne Geschichte“ entsprechend – das übrigens in Kathrins gewähltem Buch „Das Ende der Geschichten“ das erklärte Thema war – geschieht mit viel Blabla auf vielen Seiten sehr, sehr wenig. 4) Hinzu kommen unsympathische Hauptpersonen, die sich auffällig stark ähneln: unzufriedene Mitt-/Enddreißigerinnen, die ihren beruflichen Zielen nicht näherkommen und ungesunde Liebesbeziehungen führen. Und so zogen wir das Fazit: Scarlett Thomas schreibt immer dasselbe – nur ein bisschen anders.
Ein Hoffnungsschimmer?
Hat uns diese Studie der schlechten Literatur, diese anhaltende Tortur des guten Geschmacks bisher irgendetwas Positives gebracht? Ja. Ja, das hat sie in der Tat. Zum einen lesen wir andere, gelungene Werke nun mit größerer Freude und wir haben wenigstens feststellen können, dass es tatsächlich schwierig ist, einen Roman, der so schlecht ist wie das Grundlagenwerk der Studie, noch einmal zu finden.
Andererseits haben wir bereits ein paar literarische Narben davongetragen. Es fällt mir mittlerweile schwer, nicht mit den Augen zu rollen, wenn eine Romanfigur den Kopf schüttelt oder zittert. Selbstverständlich sind das ganz normale Ausdrücke. Doch in diesen Mengen … Sie schüttelte den Kopf … Kopfschütteln … zitterte … er schüttelte den Kopf … Kopf … Kopfschütteln … zitterte … Hilfe …
- Der Rote. Bernhard Kegel. Mare. 2007.
- Fabula. Christoph Marzi. Heyne. 2007.
- Troposphere. Scarlett Thomas. Übersetzung: Jochen Stremmel. Rowohlt. 2009.
- Das Ende der Geschichten. Scarlett Thomas. Übersetzung: Tanja Handels. Rowohlt. 2011.
- The Seed Collectors. Scarlett Thomas. Canongate Books. 2016.
* Eine neue Zeitrechnung meiner Lesekarriere. Benannt nach der Autorin von „Ein Licht in der Dunkelheit“. Seit der Lektüre dieses Romans hat sich meine Wahrnehmung vieler Werke verändert.
** Kryptozoologen beschäftigen sich mit Wesen aus menschlichen Sagen und Legenden, bspw. dem riesigen Kraken aus Seemannserzählungen. Die Existenz solcher Wesen wird hier nicht grundsätzlich angezweifelt, sondern auf möglicherweise bisher unentdeckte Arten zurückgeführt.
Illustration: Zeilenschwimmerin Ronja
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