In ihrem zweiten Roman „It’s all true“ befasst sich die deutsche Schriftstellerin Carmen Stephan mit der Frage nach der Wahrheit und wie wir uns dieser nähern können. Dabei erzählt sie eine auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte – die fast zu fantastisch klingt, um wahr zu sein. Erzähldetektivin Annette hat sich auf die Suche nach der Realität hinter den Dingen begeben.
„Die Wahrheit schien mir wie ein fein gewebtes Netz, das unter allem lag. Und die Menschen sahen es nicht. Sie sprachen von dem, was wirklich ist. Aber es war nicht das Wirkliche. Die Wahrheit war tiefer. Sie hatte einen Grund.“
Der nordbrasilianische Fischer Jacaré und seine Freunde riskieren täglich ihr Leben auf dem offenen Meer, nur um abends doch nicht genug Fische für ihre Familien zu haben. Damit sich etwas ändert, beschließen die vier Männer, mit ihrem kleinen Floß nach Rio de Janeiro zu fahren und den Präsidenten persönlich um Hilfe zu bitten. Ihre zweimonatige Reise macht sie nicht nur in den Augen ihrer Landsleute zu Helden. Auch der amerikanische Filmemacher Orson Welles erfährt von ihrer Geschichte und beschließt, den vieren ein filmisches Denkmal zu setzen. „Ich will, dass ihr es genauso macht, wie es war“ lautet die Anweisung an seine Darsteller. Doch bei den Dreharbeiten geht Jacaré über Bord – und ist bis heute verschwunden.
Die Wahrheit hinter den Dingen
Lässt sich die Wirklichkeit authentisch darstellen? Können Ereignisse detailgetreu wiederholt werden? Der Titel des Buches „It’s all true“ suggeriert, was weder Roman noch Verfilmung einhalten können: Die Realität lässt sich nicht abbilden. Das muss der weltbekannte Regisseur Welles einsehen, als sein Freund und Initiator der Reise vom Meer verschluckt und nicht wieder ausgespien wird. Und dem ist sich auch Carmen Stephan bewusst, wenn sie in ihrer Erzählung Fakten mit Ausgedachtem vermischt. Sie begibt sich ganz in die Innenwelt ihrer Protagonisten und stellt vor allem im Namen Jacarés viele philosophisch-metaphysische Überlegungen an.
Wie viel sie ihrem Helden dabei in den Mund legt, sei einmal dahingestellt. In jedem Fall bildet die eigentliche Handlung eine fruchtbare Grundlage für allerhand Reflexion, zur Einfachheit der Wahrheit und der Schwierigkeiten der Menschen, diese zu erkennen. Allein welcher Art diese Wahrheit sein soll, diese Antwort bleibt Stephan ihren Lesern schuldig. Ihre persönliche Motivation liegt im Mut der Protagonisten: Stephans Buch ist eine Hommage – an Jacaré und seine Freunde, aber auch an Welles, in dessen Filmaufnahmen sie ihre eigenen Eindrücke wiederzuerkennen glaubt.
Wird der Roman seinen Figuren gerecht?
Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit Stephan für ihre philosophischen Gedankenspiele den geeigneten historischen Hintergrund gewählt hat. Immerhin: Ihren Protagonisten – den fiktiven wie den realen – geht es doch um ganz existenzielle Fragen nach dem Überleben und dem der eigenen Kinder. Hätte Stephan für ihre Überlegungen eine andere Rahmenhandlung wählen sollen? Oder unterstreicht vielleicht gerade dieses Spannungsverhältnis die postulierte, vermeintlich allem zu Grunde liegende überindividuelle Wahrheit?
Ähnlich schwierig ist der Stil der Autorin einzuschätzen. Ihre kurzen, einfachen Sätze, die vielen Wortwiederholungen, die Trennung von Haupt- und Nebensätze durch Punkte sowie die sehr bildliche Sprache erscheinen einerseits als gelungene Stilmittel zum Unterstreichen der philosophischen Elemente. Andererseits drohen sie in ihrer übermäßigen Verwendung in prätentiöse Poetik abzugleiten. Auch scheinen die vielen popkulturellen und vor allem biblischen Anspielungen – teils offensichtlich, teils gut versteckt – eher ins Leere zu laufen, als tatsächlich etwas zur Handlung beizutragen.
Das eigentliche Geschehen wirkt recht abgehackt: Erzählstränge werden angeschnitten, doch nicht zu Ende gebracht. Immer wieder ergibt sich der Eindruck fehlender Szenen, die das Verständnis der Handlung erschweren. Auch wenn es der Autorin vornehmlich um die emotionale Entwicklung ihrer Protagonisten geht, wirken nicht wenige dieser Entwicklungsschritte wie angerissen, doch nicht genug in die Tiefe gedacht. In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage, inwieweit es sich bei Stephans Geschichte überhaupt um einen Roman handelt. Die 116 Seiten starke Erzählung gleicht eher einer etwas längeren Kurzgeschichte als einer vollständigen Romanhandlung. Vielleicht hätte die Autorin ihrer eigenen Wahrheit und derjenigen ihrer Protagonisten etwas mehr Raum geben sollen.
Fazit: Kurzweilige Lesereise
Alles in allem ist Carmen Stephan mit „It’s all true“ eine kurzweilige Erzählung gelungen, die in ihrer Kürze jedoch so unfertig wie Orson Welles unvollendeter Film über die Fischer wirkt. Lesenswert ist sie dennoch, nicht zuletzt aufgrund der eindrucksvollen Geschehnisse, von denen so wenig bekannt ist und die doch noch lange in den Lesern nachwirken – wie nahe sie der Wahrheit dabei auch kommen mögen.
It’s all true. Carmen Stephan. S. Fischer. 2017.
Carmen Stephan liest um den Preis der LiteraTour Nord. Hier findet ihr alle Termine.
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