Nicht alle Klassiker wurden von Männern geschrieben, klar! Trotzdem kennt man vor allem ihre Werke, denn sie werden in den Schulen gelesen, verkaufen sich gut – sie gehören zum Kanon. Worteweberin Annika ist neugierig auf die Klassikerinnen und hat wieder drei Romane unter die Lupe genommen.
„Mistral“
Maria Borrély erzählt in ihrem ersten Roman „Mistral“ sehr ungewöhnlich von der ersten Liebe einer jungen Dorfschönheit und von der großen Liebe zur Natur. Ihre Sprache oszilliert zwischen spröden, kurzen Sätzen, die sich dem Leben im südfranzösischen Dorf in der Haute Provence widmen, und schwelgerischen, poetischen Naturbeschreibungen. So viele zauberhafte Sätze wie in diesem schmalen Band habe ich mir schon lange nicht mehr markiert.
Marie, ein junges Mädchen aus einer Bauernfamilie, trifft bei der Mühle im nächsten Dorf auf Olivier, der ihr sofort den Kopf verdreht. Marie kann nur noch an ihn denken, und scheinbar wird ihre Liebe erwidert. Doch nach einem ersten leidenschaftlichen Kuss verschwindet Olivier von der Bildfläche und heiratet eine andere. Die vorher fröhliche, starke Marie verändert sich, zieht sich ganz zurück. Maria Borrély zeigt die unbändige Kraft der menschlichen Sehnsüchte und Gefühle, aber vor allem auch die der Natur. Durch alle Seiten weht wie eine Musik in diesem Buch der Mistral, der Wind.
Im Nachwort erzählt die Übersetzerin Amelie Thoma, wie sie im Urlaub in der Haute Provence ganz zufällig auf den Roman von Maria Borrély stieß. Sofort war ihr klar, dass dieser Roman auch ins Deutsche übersetzt werden musste. Die Schriftstellerin entwickelte sich in einer Künstler*innengruppe, der auch Jean Giono, der Maler Bernard Thévenet oder Paul Maurel angehörten. Von ihnen erhielt sie große Unterstützung und konnte „Mistral“ auf Empfehlung von André Gide 1930 im großen Verlagshaus Gallimard veröffentlichen. Kein Wunder, kann man heute nach der Lektüre sagen! „Mistral“ ist ein sehr besonderer Roman, der neugierig auf die weiteren Bücher der Autorin macht.
„Unser Sommer im Mirabellengarten“
Zeit für ein Sommerbuch, dachte ich mir, und griff zu „Unser Sommer im Mirabellengarten“ von Rumer Godden, allein schon, weil mich das Cover sofort fröhlich stimmte. Tatsächlich ist der Roman weniger fröhlich, als das Cover vermuten lässt, aber auch ungemein gut. Es geht um die junge Cecil, die mit der Mutter und den vier Geschwistern einen Sommer in Südfrankreich verbringt. Im hochklassigen Ambiente wirkt die Familie aus einfachen Verhältnissen, die hier zum ersten Mal überhaupt Urlaub macht, deplatziert und wird von der Leitung des Hotels und auch vielen Gästen misstrauisch beäugt. Die fünf Kinder sind im Hotel weitestgehend auf sich allein gestellt, da die Mutter direkt ins Krankenhaus kommt und sich nur langsam erholt.
In einem seltsamen Vakuum – wartend auf die Mutter, wartend auf die Heimreise – lebe die Kinder, die großen stehen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, in einem Rausch aus überreifen Mirabellen, mit Wasser verdünntem Wein, der Hitze am Fluss und dem Charme des Engländers Eliot. Unter seinen Augen legt die 16-jährige Joss nach kurzer Zeit alles Kindliche ab. Die zweitälteste Schwester Cecil kämpft mit ihrem Neid. Cecil erzählt die Geschichte rückblickend und deutet immer wieder ihr Wissen aus der Gegenwart an, wodurch eine konstante Spannung entsteht. Was hat es mit Eliot auf sich? Nichts Gutes, das ahnt man schnell. Rumer Godden erzählt sprachstark und mit herrlichen Bildern von der schwülen Sommerstimmung: „Wir lauschten den flüsternden Weidenblättern, träumten mit offenen Augen und sprachen kaum ein Wort.“
„Unser Sommer im Mirabellengarten“ ist eine herrliche Lektüre für den Sommer, fast ein Krimi, aber vor allem eine melodische Coming-of-Age-Story. Die Autorin Rumer Godden veröffentlichte übrigens über 60 Romane, die oft sehr beliebt waren und auch verfilmt wurden. Dieser hier erschien 1958 in England.
„Lolly Willowes oder der liebevolle Jägersmann“
Eine „alte Jungfer“ fängt noch einmal neu an – so könnte man „Lolly Willowes“ vielleicht kurz zusammenfassen. Nach dem Tod ihres geliebten Vaters zieht Laura, genannt Lolly, zu ihrem Bruder nach London, wo sie 20 Jahre lang im Haus und bei der Erziehung der Kinder mit anpackt, auch wenn sie das nicht glücklich macht. Einen Ehemann findet sie nicht. Außer einer kleinen Kammer hat sie nichts Eigenes – doch dann kommt ihr beim Blick auf die Landkarte die Idee, nach Great Mop in die Chiltern Hills zu ziehen.
Außer ihrem Neffen Titus ist von dieser Schnapsidee niemand begeistert. Jedoch bleibt Lolly standhaft, mietet ein Zimmer und zieht kurz darauf um. Endlich sind für sie hier Freiheit und Selbstständigkeit möglich. Um sie zu behalten und ihr neues Leben zu schützen, wird Lolly eine Hexe: Sie schließt einen Pakt mit dem Teufel, um ihren plötzlich aufgetauchten Neffen Titus wieder loszuwerden …
Sylvia Townsend Warners Debütroman war bei seinem Erscheinen 1926 sehr erfolgreich und es folgten viele weitere Gedichtbände und Romane. Ganz vergessen wurde diese Schriftstellerin, anders als viele Kolleginnen, nicht, dennoch ist dieser Klassiker gerade in Deutschland wenig bekannt. Darum ist es schön, dass „Lolly Willowes“ durch die Neuauflage 2020 im Dörlemann Verlag neue Aufmerksamkeit erhalten hat – immerhin handelt es sich um einen sehr witzigen, klugen und feministischen Roman, den ich mit Freude gelesen habe.
- Mistral. Maria Borrély. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma. Kanon. 2023.
- Unser Sommer im Mirabellengarten. Rumer Godden. Aus dem Englischen von Elisabeth Pohr. Kampa Pocket. 2022.
- Lolly Willowes oder der liebevolle Jägersmann. Sylvia Townsend Warner. Aus dem Englischen von Ann Anders. Dörlemann. 2020.
Hier geht’s zum ersten Teil der wiederentdeckten Klassikerinnen.
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