Nicht alle Klassiker wurden von Männern geschrieben, klar! Trotzdem kennt man vor allem ihre Werke, denn sie werden in den Schulen gelesen, verkaufen sich gut – sie gehören zum Kanon. Worteweberin Annika ist neugierig auf die Klassikerinnen und hat wieder drei Romane unter die Lupe genommen.
„Familienglück“
Kann ein äußerlich perfektes Leben unglücklich machen? Polly stellt plötzlich erstaunt fest, dass die Antwort „Ja“ lauten muss. Seit jeher lebt sie, um die Erwartungen anderer zu erfüllen: Sie führt einen perfekten Haushalt, hat zwei goldige Kinder, einen gutsituierten und attraktiven Ehemann und sogar einen Teilzeitjob, der sie fordert, spricht Essenseinladungen an andere wohlhabende Familien aus, besorgt für ihre Mutter Brot und Wein. Aber Polly weiß immer weniger, wer sie selbst eigentlich ist. Bis sie sich in den Künstler Lincoln verliebt und sich wieder gesehen fühlt. Die junge Frau erkennt, dass auch ihre Bedürfnisse wichtig sind, schließt Freundschaften und lebt eine Affäre, die ihren perfekten Alltag erträglich macht.
Laurie Colwin erzählt in „Familienglück“ unverkitscht und humorvoll die Geschichte einer Selbstermächtigung in den 70er Jahren und lässt sich Zeit, die Gedanken der Ich-Erzählerin dicht zu begleiten. Beim Lesen hinterließ das bei mir stellenweise das Gefühl der Redundanz, gleichzeitig wird so aber deutlich, wie schwer es der Protagonistin fällt, sich aus alten Denkmustern zu befreien. Besonders erhellend fand ich das Nachwort von Herausgeberin Nicole Seifert, das Colwins Roman klug in die Literaturgeschichte einordnet und zeigt, wie innovativ die Autorin ihre Ehebruchgeschichte erzählt. Eine weitere Perle in der Reihe „rororo Entdeckungen“!
Die Autorin Laurie Colwin hat von 1944 bis 1992 gelebt. Sie arbeitete als Übersetzerin, Verlagslektorin und schrieb eine Foodkolumne, veröffentlichte aber auch mehrere Romane. „Familienglück“ erschien erstmals 1982 und ist nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienen.
„Hotel Amerika“
Maria Leitner nimmt uns in ihrem Roman „Hotel Amerika“ mit in New Yorks größtes (fiktives) Hotel der späten 1920er Jahren. Hier prallt der amerikanische Traum auf den bitteren Ernst des Lebens. Anhand eines einzigen Tages erzählt Maria Leitner von großen Hoffnungen, aufkeimenden Widerständen und dem Elend, das für viele Menschen dieser Zeit ganz normal war – während nur ein paar Stockwerke höher die Gäste in Luxus schwelgen.
Während die Hochzeit der privilegierten jungen Verlegertochter vorbereitet wird, plant nicht nur ein Verflossener der Braut eine großangelegte Erpressung, auch die Angestellten des Hotels gehen auf die Barrikaden: Zu allem Unrecht, das ihnen widerfährt, ist nun auch noch das dürftige Kantinenessen verdorben! Die junge Shirley O’Brien hingegen ist sich sicher, dass heute ihr letzter Tag als Angestellte im Hotel sein wird, denn ab morgen kommt sie ganz groß raus – oder etwa doch nicht? Die Gedanken des aufrührerischen Fritz, der heute seinen ersten Arbeitstag in der Küche hat, bringen sie zum Grübeln. Die Perspektiven der verschiedenen Figuren mit ihren abwechslungsreichen Hintergründen und Hoffnungen werden im Roman gelungen gegenübergestellt.
Der Reclam Verlag hat Leitners Debüt von 1930 wieder aufgelegt und mit einem klugen Nachwort versehen. Über einige heute rassistisch zu bewertende Textstellen und Ausdrücke bin ich beim Lesen gestolpert und hätte mir hier direkt editorische Notizen gewünscht. Auch der sonstige Ausdruck der Autorin wirkt heute teilweise etwas aus der Zeit gefallen und bedarf etwas Gewöhnung. Insbesondere das bildhafte, wunderschöne letzte Kapitel habe ich aber sehr gerne gelesen, denn es zeigt Maria Leitners Sprachmächtigkeit.
Maria Leitner lebte von 1892 bis 1942. Sie stammt aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie und wuchs in Budapest auf. Als Journalistin lebte sie in Wien und Berlin, bevor sie 1934 ins Exil ging. „Hotel Amerika“ wurde von den Nazis verbrannt. Auch wenn sie und befreundete Künstler*innen sich für ihre Rettung einsetzten, starb Leitner 1942 in Frankreich, weil sie nicht in die USA einreisen durfte.
„Heiteres Wetter zur Hochzeit“
Wenn es um Klassikerinnen geht, vertraue ich auf das Urteil von Nicole Seifert und war deswegen neugierig auf das von ihr ins Deutsche übersetzte Büchlein „Heiteres Wetter zur Hochzeit“. Der schmale Roman von Julia Strachey erzählt bitterböse, komisch und leicht von einem Hochzeitstag. Während die Brautmutter über das heitere Hochzeitswetter schwärmt, braut sich ein stürmischer Wind zusammen, und genauso ironisch wie die Beobachtung des Wetters ist die ganze Situation: Braut Dolly trinkt sich den Tag mit einer Flasche Rum schön und kann sich kaum vor den Altar zwingen. Joseph, der Dolly mit Schildkröten beschenkt und einen herrlichen Sommer mit ihr verbracht hat, würde gerne zu ihr gehen und die Hochzeit mit einem anderen verhindern, nur: Warum eigentlich? Der Bräutigam selbst kennt die Braut erst seit kurzem, aber Owen Bigham ist eine sehr gute Partie – dass die beiden schon nach vier Wochen heiraten, hat wenig mit Romantik zu tun.
Um die geht es im ganzen Roman kaum und auch die Ausgangssituation der Menage à Trois führt nicht zu einem hollywoodtypischen Happy End kurz vor dem Traualtar, so viel kann man vorwegnehmen. Die Stimmung ist nüchtern, Gäste gehen sich gegenseitig auf die Nerven, die Brautmutter hadert mit ihren Dienstbot*innen. „Heiteres Wetter zur Hochzeit“ ist alles andere als ein heiterer Liebesroman, aber kunstvoll, ironisch und mit viel Geschick erzählt!
Julia Strachey lebte von 1901 bis 1979 und arbeitete als Model und Fotografin. Sie gehörte wie Virginia Woolf, E. M. Foster und viele andere Künstler*innen zur Bloomsberry Group. „Heiteres Wetter zur Hochzeit“ erschien demnach 1932 auch in der von Virginia und ihrem Mann Leonard betriebenen Verlag Hogarth Press. Außerdem sind von ihr Kurzgeschichten und ein weiterer Roman erschienen.
- Familienglück. Laurie Colwin. Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld. Herausgegeben von Nicole Seifert und Marga Birkmann. Rowohlt. 2024.
- Hotel Amerika. Maria Leitner. Reclam Verlag. 2024.
- Heiteres Wetter zur Hochzeit. Julia Strachey. Aus dem Englischen von Nicole Seifert. Dörlemann. 2021.
Hier geht’s zum ersten Teil: und hier zum zweiten der Klassikerinnen.
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