Mein liebes Kind,
ich danke Dir. Als ich mich heute Morgen an meinen Schreibtisch setzte, der vom silbrigen Morgenlicht in ein unwirkliches Licht getaucht wurde, fand ich deine kleine Aufmerksamkeit. Einfach so… ohne Grund, so schien es mir.
Die Blüten leuchteten auf dem hellen Untergrund des Pergaments. Rot und Blau. So albern es auch klingen mag, ich musste unwillkürlich an Dich und deinen Bruder denken. Rot – ein Mädchen. Blau – ein Junge. Eigentlich mag ich dieses Schubladendenken überhaupt nicht, wie du weißt. Doch die Gesellschaft lässt einem keine eigene Meinung. Man ist umgeben von den Meinungen der Masse. Das färbt ab. Doch lassen wir das. Die gelbe, verwelkte Blüte… das musste ich sein.
Ich habe die Blumen lange betrachtet. Ihnen fehlte das Wasser, die Erde, die Nahrung und somit alles, was sie zum Leben benötigen. Langsam aber sichtbar verloren sie ihre äußere Schönheit. Es geht ihnen nicht anders als uns. Allein mit dem Unterschied, dass sie es schneller hinter sich haben.
Mein Kaffee war bereits erkaltet, ebenso wie meine Füße, welche bar über dem alten Parkett baumelten. Es war zu spät für diese Exemplare. Hätte ich ihnen Wasser und eine Vase geholt, so wäre ihr Leben künstlich verlängert worden. Doch stellte ich mir die Frage, ob es überhaupt noch als Leben bezeichnet werden konnte. Schließlich lag ein wesentlicher Teil ihrer selbst begraben unter der Erde. Gerade erst gepflückte Pflanzen befinden sich in einer Art Wachkoma, welches stets tödlich endet. Keine angenehme Aussicht.
Ich möchte dein Geschenk weiß Gott nicht schlechtreden oder gar verurteilen. Du handeltest aus guter Absicht, wolltest mir eine Freude bereiten. Dies ist Dir auch gelungen. Zunächst…
Leider blicke ich viel zu weit hinter die Szenerie einer jeden Kleinigkeit. Du weißt das und dennoch schenkst du mir ohne zu zögern dieses Kleinod. Deshalb danke ich Dir nicht für die Blumen, sondern für deine unbedingte Liebe, welche Du deinem alternden Vater entgegenbringst.
Die Kaffeetasse ist nun leer. Der letzte Schluck schmeckte scheußlich. Meine Füße sind Eisklumpen. Ich werde sie auf den viereckigen Sonnenfleck legen, der den Umriss des großen Fensters wiedergibt. Doch erst nachdem ich diesen Brief beendet habe.
Woher hast du die Blumen zu solch früher Stunde bekommen? Warst du unten am Fluss? Im Morgengrauen? Für mich opferst du deinen kostbaren Schlaf, der dir sonst so heilig ist? Völlig ohne Eigennutz?
Was habe ich getan, dass ich ein so aufmerksames und selbstloses Kind verdient habe. Was es auch sei, es geschah intuitiv. Nie war mir etwas wichtiger als dein Wohlergehen und das deines Bruders. Ich hoffe, ihr konntet es spüren, doch wenn ich erneut auf die beiden Blumen blicke (meine lasse ich außen vor)… die rote und die blaue… so weiß ich, dass mein Weg nicht die völlig verkehrte Richtung nahm. Dafür bin ich dankbar, denn so hat wenigsten ein Aspekt in meinem Leben ein vorläufig gutes Ende genommen. Es tröstet mich, dass es mit Euch sogar der wichtigste Teil meines Lebens ist.
Sicher wirst du dich fragen: Was soll das? Ich habe dir doch einfach nur drei Blumen geschenkt.
Insgeheim wusstest du jedoch, dass es mir viel mehr bedeuten würde als das. Es sind nicht einfach nur drei Blumen. Es ist der Ausdruck eines Kindes, welches seinen Herrn Papa selbstlos liebt, akzeptiert und so nimmt, wie er ist. Mit all seinen Macken, Sonderbarkeiten und seiner trübsinnigen Sentimentalität.
Aus den Baumkronen weichen die letzten Nebelschwaden und fliehen zur Sonne. Es wird ein schöner Tag.
Ich habe eben nachgesehen. Du schläfst noch immer.
War es nur ein nächtlicher Ausflug oder bist du erst zu früher Morgenstunden nach Hause gekommen? Egal… du hast mich selbst zu dieser Tages- oder Nachtzeit nicht vergessen. Im Gegenteil, du bedachtest mich mit einer besonderen Aufmerksamkeit.
Ich nehme die ausgetrockneten Blumen in meine welken Hände. Eine verblüffende Ähnlichkeit offenbart sich mir. Die Blumen zerfallen, meine Hände verlieren ihre Kraft. Die Blüten werden verblassen, genau wie meine Träume, Gedanken und Ideale. Aber ein Teil davon wird weiterleben. In Euch. So, wie die Überreste der Blumen ein nährender Boden für ihre Nachkommen sein können.
Sie sind mir gar nicht so unähnlich… diese Blumen. Hast Du sie deshalb ausgewählt? Hast du das alles mit vollem Bewusstsein getan? Wahrscheinlich sind wir alle viel weniger das, was wir zu sein glauben. Schon gar nicht die Krone der Schöpfung.
Bevor ich mich nun, wie so oft, in weiteren ausschweifenden Worten verliere, möchte ich mit einem Zitat enden.
Ich danke Dir für die Blumen oder viel mehr für das, was sie in mir hervorgerufen haben. Und dennoch gebe ich dir diesen Satz mit auf den Weg:
Ich habe heute ein paar Blumen nicht gepflückt, um Dir ihr Leben zu schenken. Christian Morgenstern
Ich liebe Euch dafür, dass ihr seid.
Marco Habermann
Über den Autor:
Ich schreibe, fotografiere, male, zeichne und mache Musik (ich war 10 Jahre auf den Bühnen Europas unterwegs). Kurzum: Die Kunst bestimmt meine Freizeit und zu großen Teilen mein Leben. Mehr über mich kann man hier erfahren: laterno-magico.blogspot.de.
Bild: Aaron
… wunderschön …
Mit Herz & Segen!
M.M.
Lieber Marco Habermann, wie leicht man seinen Mitmenschen eine Freude machen kann, hast Du uns in Deiner Geschichte anrührend erzählt. Es sind die Gedanken,die uns wohl alle hin und wieder überfallen, speziell beim Anblick von schönen Dingen. Das Zitat von Chr. Morgenstern passt ganz ausgezeichnet hier hin: alles gesagt in einem einzigen Satz, —das ist Kunst ! Danke und besinnliche Adventszeit !
Wunderschön und sehr berührend. Vielen Dank für diesen stillen Moment am Morgen.
sehr berührend, vielen Dank!
Ohhhh! Wirklich wunder-wunderschön!!!! 🙂
Vielen Dank für die positiven Rückmeldungen.
Eventuell fällt dem/der ein oder anderen ein hübscher Text zum aktuellen Bild der Ausschreibung „100 Bilder – 100 Geschichten“ ein. Das Bild für Ausgabe 15 (also Bild Nr.16) durfte meine Wenigkeit zur Verfügung stellen. Momentan ist es aber nur im Magazin (noch nicht auf der Homepage) zu sehen.
Grüße an alle – M.Habermann
Lieber Marco, wir werden das Bild nächste Woche auf der Website veröffentlichen. 🙂