Fauler Zauber
von Daniela Röttges
Ich kann verstehen, warum man so einem Mistwetter nicht draußen sein möchte. Was ich aber nicht verstehe ist, warum mein Kater erst zehn Minuten unentwegt an der Tür kratzt, um dann, sobald ich herauskomme, unter den nächst gelegenen Baum zu flüchten. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich dieses Spiel beenden kann.
Ich schlüpfe in meine Stiefel ohne sie zuzubinden und wate durch den Matsch und den prasselnden Regen zu dem Baum. Noch bevor Oskar begreift, was hier eigentlich vorgeht, habe ich ihn gepackt und auf meinen Arm gezerrt, wo er hilflos mit den Beinen strampelt und mich empört ansieht. Das ignoriere ich und mache mich auf zurück zur Tür, von der ich leider feststellen muss, dass sie zugefallen ist. Ich fluche innerlich und verlagere Oskar auf die Seite, um in der Sporthosentasche meinen Schlüssel zu suchen. Oskar versucht währenddessen über meine Schulter zu türmen.
Meine Hand fährt in die zweite Tasche und als diese genauso leer ist wie die erste, wird mir mulmig zumute. Ich habe mich doch tatsächlich ausgesperrt. Mein Griff lockert sich und Oskar nutzt dies, um von meinem Arm zu springen. Für einen Moment sieht er noch zu mir hoch und miaut, dann prescht er durch den Regen davon. Seufzend lehne ich mich an die Tür unter das kleine Vordach. Keines der Fenster ist offen, da bin ich mir sicher. Und meine Eltern würden nicht vor morgen früh von der Party zurück sein.
Vor mir führt die Wiese einen leichten Abhang hinauf und verdeckt den Blick auf das dahinter liegende Feld, in dessen Richtung Oskar verschwunden war. Nur wegen ihm stehe ich jetzt nur in Jogginghose, schlabber T-Shirt und meinen losen Winterstiefeln vor der Tür. Nun, wenigstens die Schuhe könnte ich zubinden.
Blitze erhellen in regelmäßigen Abständen den Nachthimmel in einem kalten weiß-blau. Das Licht kommt mir so unwirklich vor. Beinahe passend für eine solche Nacht. Man sagt ja, die Nacht vor Allerheiligen wäre die Nacht der Untoten und bösen Geister. Früher haben die Leute deshalb Lichter und gruselige Puppen nach draußen gestellt. Heute macht das leider keiner mehr.
Als ich gerade überlege, den längeren Weg zu den Nachbarn auf mich zu nehmen, zieht ein weiterer weißer Blitz über den Himmel und wird sofort von dem grollenden Donner gefolgt. Doch diesmal ist es anders. Rot mischt sich unter das kalte Licht. Ein roter Schleier, der direkt von vorne zu kommen scheint. Ich versuche noch mir einzureden, dass ich mich verguckt haben muss. Doch ich werde den Gedanken nicht los, dass ich es mir doch nicht eingebildet habe. Ein Blick kann sicher nicht schaden.
Ich schlinge die Arme dichter an den Körper, atme tief durch und renne den Abhang hinauf. Regen peitscht mir ins Gesicht, sodass ich schnell Schutz unter dem nächsten Baum suche. Von hier hat man freie Sicht auf das Feld. Doch was ich sehe, beruhigt mich nicht im geringsten. Mitten zwischen den vertrockneten Resten der Ernte steht eine Person. Ich erkenne nur ihren Rücken, doch sie ist schmal und recht groß. Was tut jemand um diese Uhrzeit bei diesem Wetter draußen? Jemand, der nicht von seiner Katze ausgesperrt wurde?
Einige Zeit beobachte ich die Person, doch sie rührt sich kaum, sondern zappelt nur etwas auf der Stelle. Sie scheint mit etwas beschäftigt zu sein. Aber womit? Die Neugierde packt mich und ich nehme all meinen Mut zusammen, um herüber zu rufen: „Hallo! Entschuldigen Sie!“
Derjenige reagiert nicht. Wahrscheinlich hört er mich wegen des Windes nicht. Also trete ich hinaus in den Regen und gehe zu ihm hinüber. „Hey, kann ich Ihnen helfen?“
Wieder keine Antwort. Ich stehe fast hinter der Person, als sie mich immer noch nicht bemerkt. Sie trägt einen schwarzen Umhang, der komplett durchnässt ist. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen, sodass ich nichts erkennen kann. Mein Herz schlägt schneller in meiner Brust. Aber ich fürchte mich nicht. Für alles gibt es eine logische Erklärung. Außerdem stehen Verbrecher selten nachts im Regen auf einsamen Feldern herum.
„Entschuldigung“, beginne ich erneut mit lauter Stimme. „Haben Sie sich verlaufen?“
Nur langsam dreht sich die Person um. Ihr Gesicht erkenne ich immer noch nicht richtig, doch eine helle, aber eindeutig männliche Stimme antwortet mir: „Verschwinde, Mädchen.“
Eigentlich hätte ich gerne seiner freundlichen Aufforderung gehorcht, aber meine Beine wollten sich nicht bewegen. Also stehe ich einfach nur angewurzelt da und betrachte diese seltsame Erscheinung vor mir.
„Ich sagte: Verschwinde!“ Er schreit beinahe und wendet sich mir so schlagartig zu, dass ihm die Kapuze vom Gesicht rutscht. Zum Vorschein kommt der Kopf eines Jungen, nicht viel älter als ich, mit braunem Haar und einem kaum merklichen Bartwuchs. Er erstarrt in seiner Bewegung, als er meinen Blick bemerkt.
„Wer bist du?“, entfährt es mir, während ich ihn ungläubig anstarre. In meinem Kopf türmen sich alle möglichen Gedanken, doch ich kann sie nicht in Worte fassen.
„Ich bin ein Geist.“ Seine Stimme ist ruhig. „Ich gehöre eigentlich nicht hierhin.“
„Bist du nicht.“
„Bin ich doch“, zischt er zurück.
„Geister sind durchsichtig.“
„Du… Du kannst mich sehen?“, platzt es plötzlich aus ihm heraus.
„Nein, ich brabble nur so vor mich hin.“ Ich verstehe zwar nicht, was das Theater soll, aber dieser Junge ist genauso aus Fleisch und Blut, wie ich es bin.
„Verdammt.“ Er fängt an etwas in seinen kaum vorhanden Bart zu murmeln. Dann hebt er mit einem Mal die Arme und fängt an mit den Fingern zu fuchteln. „Ich bin ein Hexenmeister und wenn du nicht sofort verschwindest, werde ich -“
Ich lasse ihn erst gar nicht ausreden. „Was machst du hier draußen?“
„Pass auf mit wem du dich anlegst.“
„Aber ich will mich doch überhaupt nicht mit dir anlegen“, entfährt es mir, ohne dass ich mir sicher bin, dass er mit seinem Satz fertig gewesen wäre. „Ich möchte einfach nur wissen, was du hier machst.“
„Gut.“ Er verschränkt die Arme und sieht mich von oben herab an. „Wenn du es wissen willst: Ich beschwöre einen Dämon.“
„Auf offenem Feld?“
„Natürlich auf offenem Feld! Es muss doch genug Platz da sein, wenn er erscheint.“
Ich sehe mich um und dann zum Himmel. „Ziemlich schlechtes Wetter für eine Dämonenbeschwörung, oder?“
„Ich hab mir das Wetter in der Allerheiligen Nacht nicht ausgesucht“, knirscht der Junge. „Ach, ich habe dafür keine Zeit.“ Er wendet den Blick von mir ab und beginnt wieder damit etwas mit seinen Händen zu tun.
Vorsichtig gehe ich ein Stückchen um ihn herum, um erkennen zu können, was er da tut. Er dreht ein Amulett zwischen seinen schmutzigen und kaputten Fingern, das an einer goldenen Kette hängt. Die leisen Worte, die er murmelt, dringen nur spärlich an mein Ohr. Lange Zeit passiert einfach nichts. Ich erkenne, dass seine Hände zittern und auch seine Stimme wird mit der Zeit unruhiger. Doch mit einem Mal fühlt es sich merkwürdig an. Der Regen prasselt nicht mehr auf uns herab, sondern fließt zäh hinunter. Rotes Licht erfüllt die Luft und schießt plötzlich zum Himmel hinauf. Ruckartig reiße ich den Kopf hoch und sehe, wie das Licht die Wolkendecke durchbricht. Als würde für einen Moment die Zeit still stehen, so stoppt auch mit einem Mal der Regen. Noch bevor ich begreife, was gerade passiert oder was passieren könnte, ist es auch schlagartig vorbei. Die Dunkelheit der Nacht fällt wieder auf uns herab und eine kalte Dusche von Regen ergießt sich über mir.
„Scheiße!“, schreit der Junge und wirft weitere Flüche gegen den Himmel. Ich schätze, was immer er vorhatte, hat nicht so geklappt wie er es wollte. Und es war bereits sein zweiter Versuch. Schlussendlich fällt er auf die Knie und bleibt regungslos am Boden sitzen. Er macht einen bemitleidenswerten Eindruck.
„Warum willst du denn einen Dämonen beschwören?“, frage ich mit ruhiger Stimme.
„Das geht dich nichts an!“, blafft er zurück.
„Warum ist es dir so wichtig?“ War das hier irgendein Test? Oder half ich gerade bei der Vernichtung der Welt, indem ich ihn versuchte aufzumuntern?
Ich hatte schon gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet, als er plötzlich anfängt: „Ich bin auf der Flucht. Sie suchen mich, weil…“
„Weil?“, hake ich nach. Dem Jungen muss man alles aus der Nase ziehen.
„Weil ich das hier gestohlen habe.“ Er hält das Amulett in die Höhe und richtet sich auf. „Dieses mächtige Artefakt enthält die Essenz von Rubirium.“
„Du meinst Rubin“, verbessere ich ihn.
„Nein, Rubirium. Das ist eine der mächtigsten Substanzen im ganzen Universum.“
„Scheinbar funktioniert sie nicht besonders gut.“
Er hat schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als er hektisch den Kopf zur Seite dreht. Er murmelt einen Fluch und packt mein Handgelenk. „Weg hier!“
So schnell wie er losrennt komme ich überhaupt nicht mit und stolpere hinter ihm her. Mit aller Kraft stemme ich mich in den Boden, damit er anhält und versuche seine Hand zu lösen.
„Halt! Wo willst du hin?“
Er sieht mich irritiert an, als im selben Moment eine riesige Lichtkugel neben uns einschlägt und mich nach hinten wirft. Der Boden ist weich, auf dem ich lande, nur ein getrockneter Stängel zerkratzt mir den Oberarm. Mein Herz rast. Sofort rappel ich mich wieder auf. Meine Beine zittern und es fällt mir schwer gerade zu stehen. Etwas entfernt von mir sehe ich den Jungen, der sich ebenfalls nur schwerlich vom Boden erhebt.
„Wo immer ihr seid, kommt raus!“, ruft er, kaum dass er gerade steht, in die Nacht hinein. Stille. „Na gut…“ Er trägt das Amulett immer noch in den Händen und umschließt es jetzt mit allen Fingern. Rotes Licht umhüllt seine Hand. Wie Flammen schlängelt es sich um seine Faust herum und türmt sich zu einer riesigen Kugel auf. Mit einem Mal lässt er seine Faust zu Boden sausen. Die Kugel löst sich von dem Amulett und… löst sich in Luft auf.
„Sollte das so sein?“, frage ich mit zitternder Stimme. Er antwortet nicht und macht nur auf dem Ansatz kehrt und rennt davon. „Hey!“
Gerade noch rechtzeitig renne ich los, denn die nächste Kugel schlägt bereits an der Stelle ein, an der er gerade noch gestanden hat. Meine Beine laufen wie von alleine, aus Angst zu erfahren, was passiert, wenn eine der Kugeln treffen würde. Wir hetzen wie Hasen in Zickzack über das Feld. Während ich ihn in meiner Panik anflehe mir zu sagen, was hier eigentlich los ist, scheine ich für ihn überhaupt nicht zu existieren.
Der Rand des Feldes, an dem die Bäume wieder anfangen, kommt immer näher. Ich wage es nicht, mich umzublicken. Adrenalin rauscht durch meinen Körper und mein Kopf ist nur mit einer einzigen Sache beschäftigt: Bloß nicht zu stolpern. Sonst ist es vorbei. Doch noch im gleichen Moment spüre ich wie sich etwas um meinen Fuß schlingt. Ich komme aus dem Gleichgewicht, schaffe es aber weiter zu laufen. Dann höre ich plötzlich ganz in der Nähe einen dumpfen Schlag. Ich wende den Blick kurz ab, um zu sehen, dass der sogenannte Hexenmeister sich der Länge nach hingelegt hat. Auch wenn ich es besser wissen müsste, ändere ich intuitiv meine Laufrichtung und renne zu ihm hinüber. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig ihn zurück auf die Beine zu ziehen, bevor die nächste Kugel einschlägt. Meine Finger verkrampfen sich um den Stoff seines Umhangs, sodass ich es nicht schaffe ihn wieder loszulassen. Doch ich habe nur einen Gedanken: Weg hier. Diesmal bin ich deshalb diejenige, die ihn mit sich zieht, doch er gibt ausnahmsweise keinen Ton von sich.
Als wir den Rand endlich erreichen, ist es wie eine Erleichterung. Ich löse meinen Griff und merke wie taub meine Hand geworden ist. Meine weichen Beine wollen mich nicht mehr tragen und ich lasse mich hinter einem dicken Baumstamm nieder, als könnte er mich vor den Kugeln schützen. Als der Junge sich ebenfalls schwer atmend fallen lässt, weiß ich, dass die Bäume uns scheinbar wirklich schützen können.
Ein „Warum?“ ist alles, was ich mit meinem rasenden Herzen heraus bekomme.
Keine Antwort. Nun, ich habe meine Frage ja auch nicht besonders präzise gestellt.
„Was war das? Wer sind die? Warum?“ Ich schnappe nach Luft. “Warum hast du dieses unnütze Ding gestohlen?“
Als wieder keine Antwort kommt, schaue ich zur Seite und sehe, wie er zusammengesunken, den Kopf auf den Knien, neben mir hockt. Er scheint total weggetreten. Seine Augen starren ins Leere. Das Amulett umklammert er immer noch mit den Fingern. Die Verletzungen an seinen Fingern sind schlimmer geworden. Ob das von dem Amulett kommt?
Ich strecke meine Hand nach ihm aus und will seine Schulter fassen, doch noch bevor meine Finger ihn berührten, zuckt er zusammen. Er windet sich und ich sehe, dass er Schmerzen leidet. Aber warum? Ich kann keine äußeren Verletzungen erkennen.
„Was ist los mir dir?“, frage ich, doch er hört nicht auf zu zittern und sich zu krümmen. Er antwortet mir nicht mehr und in dieser Stille höre ich Schritte durch das Laub brechen.
Keine Sekunde später stehen sie vor mir: Drei Gestalten, die in schwarze Umhänge gehüllt sind. Als würde der Anblick der Drei ihm schlussendlich den Rest geben, spüre ich, wie der Hexenmeister neben mir zusammenbricht und zur Seite wegkippt. Nicht nur, dass er mich hier rein gezogen hat. Jetzt lässt er mich auch noch im entschiedenen Moment alleine!
Auch wenn ich ihre Gesichter nicht erkennen kann, spüre ich, wie die drei Gestalten mich beobachten. Mit langsamen Schritten kommen sie auf uns zu.
Zitternd drücke ich mich fest gegen den Baumstamm. Ich hatte doch überhaupt nichts mit der Sache zu tun! Er hatte das dumme Amulett gestohlen und nicht ich. Ich bin nur die Unglückliche, die gerade heute Nacht von ihrem blöden Kater ausgesperrt werden musste. Ich habe nichts mit diesem Amulett zu tun!
Auf einen Schlag wird mir alles klar: Das Amulett. Sie wollen das Amulett!
Geistesabwesend greife ich nach der Kette, die zwischen seinen Fingern hervorlugt und ziehe daran. Er hält das Amulett immer noch fest umklammert, sodass es keinen Zentimeter nachgibt. Hastig blicke ich mich um. Sie sind nur noch knappe zwei Meter entfernt. Ich glaube etwas weiß aufleuchten zu sehen, das kein Blitz ist. Panik ergreift mich und ich verkralle meine Hände in seinen, um seinen Griff aufzubiegen. Mit aller Kraft drücke ich.
„Nein“, keucht er und versucht seine Finger wieder zu schließen. Der Junge war also doch noch bei Bewusstsein. Ich zerre trotzdem weiter an seinen Händen. Er konnte ja gerne beschlossen haben hier mit seinem kostbaren Amulett zu sterben. Doch ich nicht! Zu meinem Glück sind seine Hände verschwitzt, sodass ich es schaffe ihm das Amulett aus den Händen zu reißen.
„Nein!“ In seinem Schrei liegt so viel Bitterkeit. „Tu das nicht!“ Er versucht meinen Arm, der gerade zum Werfen ausholt zu packen. Doch er erwischt mich einen Moment zu spät und das Amulett segelt bereits durch die Luft. Genau vor die Füße der drei Vermummten.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Aus Furcht, was als nächstes passieren wird, erstarre ich augenblicklich. Die mittlere Gestalt bückt sich und hebt das Amulett vom Boden auf. Es sieht fast so aus, als würde sie es begutachten. Der Hexenmeister lässt meinen Arm schlagartig los und versucht aufzustehen, um sich das Amulett zurück zu holen, doch eine unsichtbare Kraft drückt ihn zurück auf den Boden, wo er regungslos liegen bleibt.
Ich wage es kaum, zu atmen. Dann hebt der Vermummte den Kopf und ich sehe nur zwei rote, glühende Punkte, die mich fixieren. Ich versuche zu schlucken, doch es bleibt mir wie ein Kloß im Hals stecken. Was werden sie jetzt mit mir anstellen?
Ein plötzliches Rascheln im Laub lässt uns beide den Blick abwenden und ich erkenne Oskar, wie er auf den Vermummten zuspringt. Doch anstatt ihm an den Hals zu fallen, wie ein treuer Hund das getan hätte, beginnt er um ihn herum zu wuseln. Ich lasse alle meine Hoffnungen fallen. Der Kater ist zu nichts zu gebrauchen. Zu meiner Überraschung beugt sich die Gestalt jedoch zu Oskar herunter und krault ihm den Kopf. Mein Kater guckte daraufhin zufrieden, als wäre er besonders stolz. Stolz wie Oskar.
Als die Gestalt sich wieder aufrichtet, sehe ich plötzlich wie aus dem Nichts etwas auf mich zu geflogen kommt. Ich kneife die Augen zusammen und bereite mich schon einmal auf meinen baldigen Tod vor, als das Ding genau vor mir landet. Es leuchtet nicht. Das beruhigt mich schon einmal.
Auf den zweiten Blick erkenne ich den Gegenstand sogar. Es ist mein Schlüsselbund.
Irritiert sehe ich auf und bemerke, wie die Gestalt vor mir nickt, als würde sie mir danken. Dann beginnt das Schwarz der Umhänge zu verblassen und mit dem Hintergrund zu verschwimmen und kurz darauf sind die Umhangträger vollständig verschwunden.
Erschöpft lasse ich meinen angespannten Körper fallen und sinke gegen den Baumstamm. Um mich herum prasselt immer noch der Regen durch die Baumkronen. Mein Kopf will das alles noch nicht verstehen, was gerade passiert ist. Oskar kümmert das wenig. Er kommt zu mir hinüber und macht es sich mit seinem vollen Gewicht auf meinem Bauch bequem. Ich schnappe nach Luft. Warum hatten sich die Typen das Amulett nicht einfach geholt und woher hatten sie meinen Schlüssel?
Ein Stöhnen neben mir lässt mich den Kopf wenden. Der Junge ist wieder bei Bewusstsein. Seine Finger sind immer noch kaputt und aufgerissen, doch er scheint keine Schmerzen mehr zu haben, denn er richtet sich zwar schwerfällig, aber ohne Hilfe auf. Sein Gesicht ist von oben bis unten dreckig, als er zu mir sieht. Ich kann die Verwirrung in seinen Zügen lesen.
„Warum hast du das getan?“, flüstert er verbittert.
Ich hatte weder eine Entschuldigung erwartet noch ein „Danke“, aber die Frage ging zu weit.
„Dein Leben gerettet, du Idiot!“, fahre ich ihn an und werfe dabei Oskar von meinem Schoß. „Du tauchst hier auf und ziehst mich in eine Sache rein, mit der ich rein gar nichts zu tun habe und die mich fast umgebracht hätte.“
„Ich habe dich in überhaupt gar nichts hinein gezogen!“ Er beugt sich nach vorne, um bedrohlicher zu wirken. „Dazubleiben war deine eigene Entscheidung!“
„Wie machthungrig kann man eigentlich sein, ein Amulett nicht herzugeben, das einen umbringt?“ Ich spüre wie sich meine Hände zu Fäusten ballen.
„Du versteht nicht, wie unglaublich wichtig dieses Amulett war!“
„Nein das tue ich nicht! Und ganz ehrlich: Ich verstehe nichts hiervon. Nicht von Magie. Nicht von diesen Typen und ganz sicher nichts von dir. Und das möchte ich auch lieber nicht.“ Ich funkle ihn böse an. All meine Wut liegt in diesen Worten und es tut so gut, ihm endlich die Meinung zu sagen.
Darauf weiß er nichts mehr zu erwidern. Wir starren uns noch einige Momente lang an, dann steht er auf, greift in seine Tasche und drückt mir eine schwarze Perle in die Hand. Ich lasse sie augenblicklich fallen, aus Angst es könnte irgendeine Falle sein. Doch nichts passiert. Was hatte ich auch anderes bei ihm erwartet?
„Sie ist nicht gefährlich“, versichert er mir mit ruhiger Stimme. „Sie ist, damit du dich erinnerst.“
„Also werde ich das Ganze hier wieder vergessen?“, frage ich verwundert und hebe die Perle wieder auf. Natürlich. Ich hatte Magie gesehen. Was hatte ich anderes erwartet?
„Das wirst du auch. Aber mit der Perle wirst du dich an mich erinnern.“ Na toll. „Es wäre doch ein Jammer, wenn du deine Begegnung mit dem mächtigsten Magier aller Zeit vergessen würdest.“
Ich lachte trocken auf. Er bemerkt mein falsches Lachen scheinbar nicht, denn er grinst mich an. Mit keinem weiteren Wort bedankt er sich bei mir, sondern wendet sich ab und geht.
Ich überlege, ob ich ihm etwas hinterher rufen soll. Ob ich ihn fragen soll, wohin er geht, was er vorhat. Doch ich weiß, dass das keinen Zweck hat. Er wird mir nicht antworten und ich würde ihn keine Stunde mehr ertragen und Magie sowieso nicht.
Ich richte mich auf und sehe ihm nach. Was für eine merkwürdige Begegnung in so einer Nacht. Kurz überlege ich, ob ich die Perle nicht doch lieber wieder fallen lassen sollte. Dann würde ich ihn, wie alles andere hier, vergessen. Etwas hält mich davon ab. Ihn möchte ich nicht vergessen. Ich möchte ihn erkennen, wenn ich ihm noch einmal begegnen sollte. Und nur aus einem einzigen Grund: Um ihm dann aus dem Weg zu gehen.
Über die Autorin:
Seit über 10 Jahren schreibe ich phantastische und humorvolle Geschichten. Vor 4 Jahren habe ich angefangen meine Geschichten online unter dem Pseudonym Schneeregen zu veröffentlichen. Lange und kurze Geschichten, Artikel über meine Art zu schreiben und das Schreiben allgemein findet ihr auf meinem Blog: schneeregenwritersblog.blogspot.de.
Bild: Alexa
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