Achtarmig erzählt: „Weil da war etwas im Wasser“

von | 05.12.2023 | Belletristik, Buchpranger

Luca Kieser hat mit „Weil da war etwas im Wasser“ ein Experiment gewagt: Die acht Arme eines Riesenkalmars erzählen miteinander und manchmal gegeneinander ihre Geschichten, die zu einer Geschichte über die Menschen verwoben wird. Damit hat der Autor vieles richtig gemacht, findet Worteweberin Annika.

Seit „Rendezvous mit einem Oktopus“ von Sy Montgomery bin nicht nur ich Oktopus-Fan, auch viele weitere Veröffentlichungen, etwa „Faszination Krake“ von Michael Stavaric und Michèle Ganser, spüren diesen sehr intelligenten Weichtieren und generell dem faszinierenden Leben im Meer nach. „Weil da war etwas im Wasser“ von Luca Kieser setzt nun einer besonders geheimnisvollen Oktopoden-Art ein literarisches Denkmal, nämlich dem Riesenkalmar. Früher hielten ihn die Seeleute für ein Ungeheuer, es entstanden Sagen, Mythengestalten und Legenden. Auch heute umgeben diese Tiere noch einige Rätsel.

„Ein Wesen, das immerzu in Finsternis lebt. Das mit jedem Atemzug die Schwärze einsaugt und wieder aus sich herausdrückt. Das sie auf diese Weise überwindet. Sie durchdringt – stellen wir uns ein Leben vor, das aus nichts besteht als alter Nacht.“

(S. 10)

Tierisch menschlich

Der weibliche Riesenkalmar, um den es geht, trifft unter Wasser auf ein riesiges Glasfaserkabel. Seine Arme und Tentakeln beginnen zu erzählen: der Süße, der Hehre, der Blendende, der Müde, der Halbe, der Arme, der Eingebildete, der bisschen Schüchterne, schließlich der Neue.

Sie breiten nacheinander ihre Geschichten aus, fallen sich dabei ins Wort, buhlen um Aufmerksamkeit. In den Fußnoten werden die Leser*innen aufgefordert, in einem anderen Kapitel weiterzulesen oder zurückzublättern. Auf jedem Seitenrand ist hingegen für die Orientierung vermerkt, welcher Arm gerade erzählt. Das ist ungewohnt, erzeugt aber eine spannende Vielstimmigkeit. Gleichzeitig entspricht es durchaus der Anatomie der Kraken, dass die einzelnen Arme unabhängig voneinander und mit unterschiedlichem Charakter agieren.

„Unser junger Autor fragte sich, ob es überhaupt möglich war, aus der Perspektive eines solchen Tiers zu schreiben, ob es überhaupt ging, aus der Perspektive irgendeines Tiers zu schreiben. Er befürchtete, es zu vermenschlichen. Genauso aber befürchtete er, es fremder zu machen, als es war, wenn er die Gemeinsamkeiten mit den Menschen leugnete.“

(S. 241)

Ein folgenreicher Zahnbürstenwurf

Und wovon erzählen nun die Arme einer Kalmarin? Erstaunlicherweise geht es viel um die Menschen, um das Leben an Land. Es geht um Sanja, die Praktikantin auf einem Krill-Trawler, um die Zahnbürste, die sie ins arktische Meer wirft, und die Beziehung, die sie zu einem anderen Riesenkalmar aufbaut, der als Beifang an Bord landet.

Es geht um die Geschichte von Sanjas Familie, den Seefahrer Hernán Sanz Sanchez zum Beispiel, der nach einer traumatischen Begegnung mit einem Riesenkalmar das Meer hinter sich ließ, den Reedereibesitzer Chris Macke-Meyer und die Polarforscherin Dagmar. Diese über viele Generationen verzweigte Familiengeschichte wird ausführlich erzählt und in einem Stammbaum dokumentiert. Mich hat sie dennoch recht schnell abgehängt. Zum Glück wird im Roman aber nicht nur eine Geschichte erzählt.

Polyphones Kunstwerk

Anspielungsreich verzweigt sich die Erzählung von Jules Verne zu Peter Benchley, der „Der weiße Hai“ schrieb, von der Begegnung mit einem männlichen Riesenkalmar bis auf das Deck des Forschungsschiffs Polarstern, vom Globuli und Ambra zur Vorhaut eines jungen Autors in einem Tabus-brechenden autofiktionalen Kapitel am Ende des Romans. Viele Geschichten hängen zusammen, manche stehen einfach nebeneinander. Und einige dürfen rätselhaft bleiben, wie der Riesenkalmar selbst.

„Aber Unsicherheit ist ja schön, alles andere ist bloß Wahrheit.“

(S. 233)

Luca Kieser gelingt es zauberhaft, uns mit Hilfe der Fangarme aus dem Wasser heraus die Geschichte und die Welt der Menschen zu erklären. „Weil da war etwas im Wasser ist einer der außergewöhnlichsten Romane, die ich gelesen habe und stand, finde ich, sehr verdient auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Weil da war etwas im Wasser. Luca Kieser. Picus Verlag. 2023.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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