Nino Haratischwilis „Löwenherzen“ ist ein Bühnenstück für Kinder, niedergeschrieben und illustriert. Es thematisiert Kindheit in der globalisierten Welt. Buchstabenakrobatin Melanie ist durch die Szenen balanciert und dabei auf eine magisch schöne Bildwelt gestoßen.
Eine Zirkusarena, ein junger Zauberer im Scheinwerferlicht, der einen Plüschlöwen zum Leben erweckt. Dann ein Schnitt und wir landen gemeinsam mit dem Zauberkünstler in der Realität, genauer: In einer Fabrik in Bangladesch, in der Kinder an langen Tischen sitzend Plüschtiere nähen. Der Bruch zwischen der Träumerei des achtjährigen Anand und dem tatsächlichen Schauplatz der ersten Szene in Nino Haratischwilis „Löwenherzen“ ist ebenso hart wie die dargestellte Lebenswirklichkeit.
Statt zur Schule zu gehen, muss Anand Geld für seine Familie verdienen, denn seine Mutter ist fort, um „ihren Bauch [zu] vermieten“ (S. 8). Seine Hoffnungen und Sehnsüchte schreibt der Junge in einem Brief an Gott, den er in Europa vermutet, nieder. Im Bauch eines Stofflöwens versteckt soll der Brief seinen Weg finden. Und tatsächlich kommen Brief und Stofflöwe nach Europa, aber auch nach Afrika und schlussendlich wieder nach Bangladesch. Auf seiner Reise geht der Löwe, der dank Anands Tagträumereien ein schiefes Auge hat, von Kinderhand zu Kinderhand, spendet Trost, Glück und Hoffnung und gibt Leser*innen Einblicke in ganz unterschiedliche Kinderleben und Schicksale.
Problembewusst und voller Hoffnung
„Löwenherzen“ ist das erste Theaterstück für Kinder aus der Feder der mehrfach ausgezeichneten Autorin Nino Haratischwili. Nachdem es 2021 in Gelsenkirchen uraufgeführt und im selben Jahr mit dem Mülheimer KinderStückePreis ausgezeichnet wurde, erschien es im Herbst 2024 als großformatiges Bilderbuch bei der Frankfurter Verlagsanstalt.


Es handelt sich hierbei jedoch keineswegs um ein klassisches Bilderbuch, denn abgedruckt wurde kein Erzähltext, sondern das acht Szenen umfassende Bühnenskript, also ausschließlich Figurenrede und Regieanweisungen. Davon sollten sich Interessierte jedoch nicht abschrecken lassen, denn Haratischwili ist eine Meisterin ihres Faches und legt so viel Sprachkunst an den Tag, dass man auch ohne ausführliche Beschreibungen von Handlungen, Schauplätzen und Figuren in mitreißende Szenen eintauchen kann. Ihr gelingt es, in kürzester Zeit sehr unterschiedliche Kinderleben darzustellen, und Figuren zu kreieren, die authentisch, ungeschönt und ohne übertriebene Dramatik Ausgrenzung, Flucht, Menschenhandel, Ausbeutung von Kindern und anderen Herausforderungen begegnen. Verbunden werden die Szenen durch den Stofflöwen, der den Kindern hilft, ihre Stärken zu entdecken und ihnen Hoffnung gibt, in unserer Welt zu bestehen. Durch ihn erhält das Stück eine märchenhafte Komponente, die Inspiration für Illustratorin Julia B. Nowikowa gewesen zu sein scheint.
Collagen aus Realität und Traum
Julia B. Nowikowa, die auch als Malerin und Bühnenbildnerin tätig ist, hat „Löwenherzen“ mit je einer doppelseitigen Illustration zu Beginn jeder Episode sowie ganzseitigen Bildern und kleineren Abbildungen, die den Text auflockern und schmücken, zum Bilderbuch gemacht. Sie alle muten märchenhaft, magisch, geradezu surreal an, und greifen damit nicht nur die Essenz des Löwen, sondern auch die Träume der Kinder auf. Die nur zum Teil in bunten Wasserfarben colorierten Bleistiftzeichnungen zeigen Figuren, Orte oder Themen, die in den Szenen behandelt werden. So zeigt beispielsweise das Titelbild zur zweiten Szene das deutsche Mädchen Emma. Ihr Gesicht, das wie das aller illustrierten Figuren fotografisch erscheint, wird von transparenten Umzugskisten überdeckt, die die Doppelseite füllen. In ihnen sind die Habseligkeiten des Mädchens zu entdecken, aber auch ihre stets streitenden Eltern (beide mit einem Tierkopf) und, da die Szene an Weihnachten spielt, Christbaum und Nussknacker. Wie fast alle Abbildungen ist auch diese eine Collage, die erst bei genauem Hinsehen ihre Bestandteile preisgibt. Nowikowa gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die tiefen Emotionen aus den Gesichtern der Kinder sprechen zu lassen und die Stimmung der Texte damit in Bilder zu fassen.

Zu Wort kommen in Nino Haratischwilis Bühnenstück vor allem die Kinder. Ihre Weltsicht, ihre Emotionen und ihre Wünsche sind es, die mich in ihren Bann gezogen haben und die bestimmt auch Kinder und Jugendliche von diesem Buch überzeugen können. Julia B. Nowikowa hat mit ihren Bildern den magischen Anklang, der dem Löwen und den Träumen der Kinder innewohnt, aufgefangen und ihnen Gesichter gegeben, die ihre tiefen Gefühle zeigen.
„Löwenherzen“ ist ein Buch für alle ab zehn Jahren, das zum gemeinsamen Ansehen und Lesen besonders geeignet ist. Es eröffnet große Themenkomplexe, die zum Nachfragen und Nachdenken anregen, die traurig machen, aber auch Hoffnung auf Besserung schenken.
Nino Haratischwili: Löwenherzen. Illustriert von Julia B. Nowikowa. Frankfurter Verlagsanstalt. 2024. Ab 10 Jahren.
Ein Beitrag zum Themenjahr buch&kunst.
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