„Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts zu reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. […]“
Obwohl die Veränderungen im Vater, August Geiger, nach seiner Pensionierung nicht unbemerkt bleiben, denkt da noch niemand aus der Familie an eine Krankheit. Man schiebt es auf seinen Charakter, das Eigenbrötlerische sei schon immer typisch für ihn gewesen. Auch die Tatsache, dass seine Frau ihn nach dreißig Jahren Ehe verlässt, dient als Mitverantwortliche für seine „Aussetzer“: Der Vater gibt nach und nach alle Verantwortung ab, bringt vieles durcheinander, scheint auf sein Umfeld immer weniger Rücksicht zu nehmen und ist mit Alltäglichem plötzlich überfordert. Seine Kinder ärgern sich, sie ermahnen ihn, doch beide Seiten fühlen sich unverstanden.
Erst Jahre später kommt es dann zur „Einsicht“; die Diagnose „Alzheimer“, das Wissen, womit man es zu tun hat, ist für alle eine enorme Erleichterung, doch gleichzeitig löst es auch Reue und Bedauern aus:
„Die Einsicht in den wahren Sachverhalt bedeutete für alle eine Erleichterung. Jetzt gab es für das Chaos der zurückliegenden Jahre eine Erklärung, die wir akzeptieren konnten, wir fühlten uns nicht mehr so am Boden zerstört. Nur die Einsicht, dass wir zu viel Zeit damit vergeudet hatten, gegen ein Phantom anzukämpfen, war bitter – Zeit, die wir tausendmal sinnvoller hätten nutzen sollen. Wenn wir klüger, aufmerksamer und interessierter gewesen wären, hätten wir nicht nur dem Vater, sondern auch uns selber vieles erspart, und vor allem hätten wir besser auf ihn aufpassen und noch rasch einige Fragen stellen können.“
Doch auch ab dem Moment, als man die Veränderung benennen kann, bleibt es spannend. Die Demenz verläuft und zeigt sich bei jedem anders. Bei August Geiger ist es vor allem die Suche nach dem „Zuhause“, nach Geborgenheit und einem Ort, wo er hingehört. Nach und nach „verlernt“ er vieles: Er erkennt sein eigenes Haus nicht mehr und sitzt vor dem Brot, ohne zu wissen, was er damit tun soll. Doch gleichzeitig präsentiert der Vater seinem Umfeld auch eine neue, originelle Seite: So wird er in vielen Momenten zum Schöpfer kreativer Wortspiele und erstaunlich durchdachter und inspirierender Aussagen.
Arno Geiger bietet mit dieser Geschichte einen einmaligen und persönlichen Einblick in das Zusammenleben mit einem Dementen. Die Schilderungen der familiären Szenen, die oft so fern sind von jedem „Alltag“, werden treffend ergänzt durch Auszüge aus Gesprächen mit dem Vater. Abgerundet wird das Gesamtbild durch Einblicke in die Familiengeschichte der Geigers: jene des Vaters, aber auch jene des Großvaters, der ebenfalls schon dement war.
Im Hörbuch ist der klare und sehr persönliche Schreibstil des Autors, Arno Geiger, ideal kombiniert mit der sehr angenehmen, zum Mitfiebern anregenden Stimme des Sprechers, Matthias Brandt. So werden die Zuhörenden mal zum Schmunzeln, mal zum Nachdenken, ab und zu auch zum Innehalten angeregt. Es ist eine sehr berührende Geschichte über eine der vielen Seiten des Lebens, die aber nicht weniger lebenswert ist, sondern lediglich andere Aufgaben stellt, dafür aber auch andere Chancen bietet.
Verseflüsterin Silvia
Der alte König in seinem Exil. Arno Geiger. Sprecher: Matthias Brandt. Hörbuch Hamburg. 2015.
Ich hatte dieses Hörbuch mal von meinen Kollegen geschenkt bekommen und kann es ebenfalls nur empfehlen. Der Weg von der Unwissenheit über das langsame Verstehen bis hin zum etwas anderen Umgang mit der Krankheit ist sehr nachempfindbar beschrieben. Die Geschichte wirkt umso mehr, da sie auf wahren Tatsachen beruht.
Klare Empfehlung, auch von mir.