Der Schneesammler

von | 02.12.2012 | Kreativlabor

Nur von Weitem wehte der schwache Klang von Weihnachtsmusik durch den Park. Lichterketten wanden sich um die kahlen Bäume, doch sie waren ausgeschaltet und ebenso leblos wie die Landschaft um sie herum. Das warme Kerzenlicht, das in den Fenstern der umliegenden Häusern flackerte, drang nicht bis hierher. Eine einzelne Gestalt, ein dunkler Scherenschnitt vor dem nachtblauen Himmel, harrte dennoch in der Kälte aus. Weiße Atemwolken stiegen vom Mund des Mannes auf und vermischten sich mit den wirbelnden Schneeflocken um ihn herum. Er schaufelte Schnee; nicht um einen Weg freizuhalten, sondern mitten auf der Wiese. Er wollte die saubersten, gänzlich unberührten Eiskristalle. Schaufel um Schaufel füllte er in große Plastiktüten.

Ein Pärchen kam durch den Park geschlendert und warf ihm verwunderte Blicke zu. Es war der erste Advent und schon ziemlich spät – die Zeit, um auf dem Weihnachtsmarkt Glühwein zu trinken oder zuhause bei Plätzchen und heißem Tee zusammenzusitzen. Was suchte der Mann um diese Zeit allein im Park, und warum benahm er sich so seltsam? Das Paar blieb nicht stehen, um es herauszufinden.

Inzwischen hatte der Mann seine Tüten gefüllt. In jeder Hand hielt er eine davon, während er den kleinen Park mit langen Schritten hinter sich ließ. Er hatte es nicht weit. Nur wenige Minuten später erreichte er das Krankenhaus, trat durch die Drehtüren und eilte durch die hell erleuchtete Eingangshalle. Es war warm, viel zu warm; er spürte bereits, wie sich das Gewicht in seinen Tüten zu verändern begann, als der Schnee schmolz. Er durfte keine Zeit verlieren. Jede Minute zählte. Er hatte es ihr versprochen.

Zum Glück waren die Krankenhausgänge um diese Uhrzeit so gut wie leer. Gelegentlich begegnete er einer Schwester, doch obwohl sie alle seine Schneetüten anstarrten, hielt ihn niemand auf. Sie kannten ihn hier. Vor einer Zimmertür, die genauso aussah wie all die anderen entlang des langen Gangs, kam der Mann zum Stehen. Für einen Moment schloss er die Augen und beschwor ein Lächeln herauf. Dann klopfte er leise und trat ein.

Sie saß in ihrem Bett am Fenster und blickte durch das immer dichter werdende Schneetreiben auf die Lichter der Stadt hinaus. Es war dunkel im Zimmer, doch er konnte deutlich die Kabel und Schläuche erkennen, die von ihrem kleinen Körper zu den blinkenden, piepsenden Apparaten um sie herum verliefen. Sie schimmerten schwach, wie von innen heraus; unmöglich zu übersehen oder zu ignorieren. Das Lächeln auf seinem Gesicht schien eingefroren zu sein, doch er ließ nicht zu, dass es verschwand.

„Ich bin wieder da“, sagte er leise. „Wie versprochen.“
Das Mädchen im Krankenhausbett wandte den Kopf. Die Kontrolllämpchen der Apparate spiegelten sich geisterhaft in ihren großen Kinderaugen. Sie erwiderte nichts, schaute ihn nur erwartungsvoll an. Er zog den Besuchertisch an die Seite ihres Bettes, hob seine Tüten und stülpte sie um. Schnee rieselte heraus, teils schon halb geschmolzen, aber teils auch noch in feinen, federleichten Flocken. Er bildete einen so hohen Haufen auf dem Tisch, dass das Mädchen beinahe dahinter verschwand. Dennoch sah der Mann ihr Lächeln, spürte es. Aus den Taschen seines Mantels zog er ein paar winziger, rot-orange gestreifter Wollhandschuhe und hielt sie seiner Tochter entgegen.
„Jetzt kannst du doch noch deinen Schneemann bauen.“

 Marie-Helene Mittmann,
Die Gewinnerin der Weihnachtsschreibaktion

Illustration © Gesa

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