Du sollst nicht lügen. Das wissen wir natürlich, gleichzeitig lassen wir uns von fantastischen Geschichten in Romanen bezaubern – das ist Fiktion. Doch was ist, wenn sich beides nicht genau trennen lässt? Worteweberin Annika macht eine Grenzbegehung.
Warum überhaupt das Ganze? Robert Menasse, das ist bekannt, hat für seinen Roman „Die Hauptstadt“ 2017 den Deutschen Buchpreis bekommen. Was lange nicht bekannt war, ist, dass im Roman Aussagen über die Entstehung der Europäischen Union gemacht werden, die schlicht nicht stimmen. Wohl das größte Problem dabei dürfte sein, dass Menasse diese Aussagen auch außerhalb des Romans, zum Beispiel bei Lesungen, reproduziert hat. Konkret geht es dabei um die Rede des Europapolitikers Walter Hallstein, dem Menasse Worte über den Wunsch nach einem vereinigten Europa in den Mund legte und die er noch dazu nach Ausschwitz verlegte.
Fiktionspakt und Make-Believe
Auf „Die Hauptstadt“ steht nun vorne groß „Roman“ aufgedruckt. Damit ist klar, dass wir es mit einem fiktionalen Werk zu tun haben. Als Leserinnen und Leser gehen wir mit diesem Werk einen sogenannten Fiktionspakt ein. Das heißt, wir lassen uns zwar auf die Geschichte ein, wissen aber, dass das dort Erzählte nicht real sein muss. Man nennt das auch Make-Believe. Wie Kinder im Spiel tun wir beim Lesen so, als würden wir dem Erzählten und den Regeln der erzählten Welt glauben. So bekommen wir keine Probleme damit, „Harry Potter“ zu lesen, obwohl uns bewusst ist, dass uns im Alltag keine fliegenden Besen oder Drachen begegnen werden und dass wir auch keinen Brief aus Hogwarts zu erwarten haben (schade eigentlich…).
Natürlich gibt es auch literarische Texte, die nicht oder nur teilweise fiktional sind. Dazu kann man literarische Essays zählen oder auch autofiktionale Texte, bei denen der Autor und sein Protagonist große Parallelen aufweisen. Und dann gibt es noch das Gegenteil, nämlich Texte, die erstmal nicht fiktional erscheinen, tatsächlich aber von vorne bis hinten ausgedacht sind.
Literarische Fälschungen
Das kann zum Beispiel die Biografie eines Mannes sein, den es eigentlich nie gegeben hat, so geschehen in Wolfgang Hildesheimers „Marbot“ von 1981. Das Problem hierbei war die Kennzeichnung des Buches als tatsächliche Biografie, unterfüttert mit angeblich authentischen Bildern und Fotos.
Ein anderes Beispiel sind Binjamin Wilkomirskis „Bruchstücke“ – Kindheitserinnerungen aus dem Vernichtungslager von einem, der selbst nie dort war. In der Literaturwissenschaft fallen solche Fälle unter den Begriff „Literarische Fälschung“. Wenn die Fälschungen enttarnt werden, hat das oft Konsequenzen: Wilkomirskis Buch wurde vom Jüdischen Verlag nicht weiter verlegt und ist heute nur noch antiquarisch erhältlich, obwohl er vorher als besonders authentisch und beklemmend gelobt wurde. Wilkomirski indes behauptete auch nach der Enttarnung noch, sich an das von ihm Beschriebene zu erinnern, so dass manche bei ihm von einem Fall von „false memory“, also falscher Erinnerung, sprachen.
Und „Die Hauptstadt“?
Ist „Die Hauptstadt“ auch eine solche Fälschung? Hat Menasse gelogen? Im Feuilleton und in den Medien wird fleißig diskutiert. Für die einen ist Menasse durch die Fiktion geschützt, für die anderen ist er ein Lügner. Wichtig ist es hierbei sicherlich, Menasses eigene Aussagen von denen des Romans zu trennen. Der Roman ist fiktional, was dort geschieht, muss nicht real sein, auch wenn er sich an einem Figurenarsenal bedient, das es tatsächlich gibt. Bedenklich bleibt es aber rein argumentativ wohl trotzdem, ein literarisches Europa-Manifest auf einem falschen Gründungs-Mythos aufzubauen.
Robert Menasse selbst schließlich steht natürlich außerhalb der Fiktion. Was er in Interviews und Lesungen äußert, sollte dem gleichen Wahrheitsanspruch gerecht werden wie die Aussagen jedes anderen. Wenn der Autor also außerhalb seines Romans etwas wiederholt, das nicht stimmt, dann lügt er spätestens dann.
- Johannes Franzen: Eine Lüge in der Wirklichkeit wird keine Wahrheit im Roman – Zur Kontroverse um Robert Menasse, (54books.de)
- Hubert Winkels im Gespräch mit Gisa Funck: Versuch der Geschichtsfälschung, (deutschlandfunk.de)
- Buchpreisträger Menasse in der Kritik, (focus.de)
- Ansgar Graw: „Was kümmert mich das Wörtliche“, (welt.de)
- Zeilenschwimmerin Ronja: Verzeihung, aber: Was hat das Schwein hier zu suchen? (Rezension)
Illustration: Geschichtenzeichnerin Celina
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