Eine von uns: „Kim Jiyoung, geboren 1982“

von | 13.04.2021 | Belletristik, Buchpranger

Frauen haben es oft nicht leicht – das ist weltweit so, auch, aber nicht nur, in Südkorea. Cho Nam-Joo erzählt in „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von einer Frau, der es geht wie so vielen. Worteweberin Annika hat sich in der Erzählung wiedererkannt.

Kim Jiyoung heißt die Protagonistin in Cho Nam-Joos Roman, der nicht nur in Korea ein Bestseller wurde. Kim Jiyoung hat ihren Beruf an den Nagel gehängt, als ihre Tochter geboren wurde. Seitdem verhält sie sich immer öfter seltsam. Sie schlüpft plötzlich in die Haut anderer Frauen und stößt damit ihre Mitmenschen vor den Kopf. Hinterher kann sie sich an nichts mehr erinnern. Ist sie verrückt? Und woher kommt ihr Verhalten?

Die Gründe werden uns Leserinnen und Lesern in der Rückschau auf Kim Jiyoungs bisheriges Leben schnell deutlich. Nachdem wir in der Gegenwart mit dem Riss in der Realität der jungen Frau konfrontiert werden, wird chronologisch ihre Kindheit und Jugend, ihre Studienzeit und der Berufseinstieg vor uns aufgerollt. Dabei erkennen wir: Frau sein ist nicht leicht, schon gar nicht in Südkorea.

Frau sein

Dort wurden weibliche Föten früher oft abgetrieben, weil sich die Familien nur Jungen wünschten. Auch wenn die Erzählung suggeriert, dass die Lage inzwischen etwas anders aussieht, ist der Alltag in Südkorea weiterhin von Misogynie geprägt: Während ihr jüngerer Bruder verwöhnt wird, müssen Kim Jiyoung und ihre Schwester zurückstecken. Wenn sie in der Schule von einem Jungen gehänselt wird, dann nur, so der Lehrer, weil er sie gern hat. Auch wenn Männer sie später im Leben belästigen, ist Kim Jiyoung selbst schuld. Viele Unternehmen wollen sie als Frau nicht einstellen, denn sicherlich wird sie bald ausfallen, um Mutter zu werden. Aufstiegschancen werden ihr trotz herausragender Leistung aus demselben Grund nicht geboten und sie verdient deutlich weniger als männliche Kollegen. Als herauskommt, dass in der Damentoilette ihrer Firma gefilmt wird, ist das für die männlichen Chefs keine große Sache. Die Welt von Kim Jiyoung ist schlicht frauenfeindlich.

Zwar leben wir in Deutschland unter etwas anderen Rahmenbedingungen, doch trotzdem kann man viele strukturelle Probleme aus Kim Jiyoungs Welt auch bei uns erkennen: Auch in Deutschland erleben viele Frauen Gewalt, sind mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert – Mutterschaft und Karriere lassen sich auch hier oft schlecht vereinbaren – und haben teilweise weniger Chancen als Männer. Am Beispiel der im Roman erzählten Welt wurde mir das immer wieder deutlich. Sätze wie „Wenn er dich ärgert, dann mag er dich“ sind nur ein Beispiel.

Daten und Fakten

Im Roman bekommen wir die Misogynie nicht nur durch Kim Jiyoungs Geschichte vor Augen geführt. Zusätzlich ist die Erzählung mit Daten unterfüttert, zum Beispiel über das große Lohngefälle in Südkorea oder das Verhältnis zwischen neugeborenen Jungen und Mädchen. All das ist mit statistischen Quellen belegt. Ungewöhnlich für einen Roman, und tatsächlich kommt nicht nur der Titel „Kim Jiyoung, geboren 1982“ sachlich-nüchtern daher. In die Erzählung sind neben der Statistik auch viele Fakteninformationen eingebunden, zum Beispiel über die Quadratmeterzahl der Wohnung, in der Kim Jiyoung lebt. Wer in der poetischen Sprache eines Romans schwelgen möchte, ist hier nicht gut aufgehoben.

Mit weltweit über zwei Millionen verkauften Exemplaren und einer großen Blogger-Kampagne auf Instagram warb der Kiepenheuer & Witsch Verlag für den Roman. Eine Zeitlang war „Kim Jiyoung, geboren 1982“ überall zu sehen. Ist es also bloß wieder einer dieser Bücher-Hypes? Ich habe „Kim Jiyoung, geboren 1982“ gerne gelesen. Das rätselhafte Ereignis am Anfang (das für meinen Geschmack gerne ausführlicher hätte beschrieben werden dürfen) macht neugierig und durch die letzten Kapitel wird der Roman dann noch in ein ganz anderes Licht getaucht. Vor allem aber kann man hier viel lernen, sich selbst und bestimmte Situationen wiedererkennen. Das ist für Männer und Frauen gleichermaßen lehrreich. Ein interessanter Hype also allemal!

Kim Jiyoung, geboren 1982. Cho Nam-Joo. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Kiepenheuer & Witsch. 2021.

Bücherstadt Magazin

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