Empfindsamkeit und Liebesleid

von | 28.07.2014 | Auditorium, Belletristik, Buchpranger, Hörbücher

„Die Leiden des jungen Werther“ ist ein von Johann Wolfgang von Goethe verfasster Briefroman, der 1774 zur Leipziger Buchmesse erschien. Goethe wurde mit seiner Geschichte um den jungen Werther, der unglücklich in die verlobte Lotte verliebt ist, in Deutschland über Nacht berühmt. Heute zählt der Roman zu den erfolgreichsten der Literaturgeschichte. – Von Zeichensetzerin Alexa

Goethe selbst schrieb über sein Werk:

„Eine Geschichte…, darin ich einen jungen Menschen darstelle, der, mit einer tiefen reinen Empfindung und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, bis er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt.“

In Briefform erzählt Werther über den Zeitraum vom 4. Mai 1771 bis 24. Dezember 1772 seinem Freund von seinem Leiden. Am 22. Mai schreibt er:

„Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sei, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt—das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.“ […]

Werther schreibt in seinem Brief an Wilhelm über die Einschränkungen, in welche „die Kräfte des Menschen eingesperrt sind“ und dass alle Taten nur dazu dienen, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Er beschreibt eine Welt voller Vergeltung und Begier. Den Erwachsenen vergleicht er mit einem Kind. Denn Erwachsene wissen genauso wenig, was auf sie zukommt und wie sie „nach wahren Zwecken“ handeln. Ebenso werden sie durch Dinge, die ihre Bedürfnisse stillen, regiert.

Werther, der unglücklich in Lotte verliebt ist, macht sich viele Gedanken, zu denen der Sinn seiner Taten und seine unerfüllten Wünsche zählen. Er fragt sich, ob man glücklich sein kann, wenn man Demut erlebt hat und ob das Leben, so wie es ist, Sinn ergibt. Denn ununterbrochen ist das Gefühl von Bedürfnissen in uns, die wiederkehren oder sich steigern, wenn sie für einen Moment befriedigt sind – wie ein niemals enden wollender Kreislauf. Und wenn jemand in der Demut erkennt, was los ist, worauf das alles hinausläuft, dann wird er ganz ruhig und erschafft sich seine eigene Welt. Er begreift, dass er die Freiheit hat, selbst zu bestimmen, wann er diese Welt verlassen will. „Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.“

Diese Ansicht soll zu Zeiten Goethes viele junge Menschen zum Suizid verleitet haben. Man spricht auch von einem Werther-Effekt oder einer Suizidwelle, die nach der Veröffentlichung des Briefromans „Die Leiden des jungen Werther“ im Jahr 1774 aufgetreten sein soll. Die Begeisterung, die dieser Roman auslöste, zeigte sich außerdem in der Verkleidung der Menschen, die sich plötzlich anzogen wie Werther. 1775 wurde der Roman in Leipzig und anderen Städten verboten, weil er als Empfehlung des Selbstmordes angesehen wurde.

Heute wird Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ als Schullektüre gelesen und analysiert. Dabei werden Merkmale der Epoche „Sturm und Drang“ besprochen, sowie die Erzählform, der Schreibstil und der Inhalt unter die Lupe genommen. Werthers Briefe geben noch heute eine gute Grundlage als Diskussionsstoff, sei es das Thema Selbstmord, die unerwiderte Liebe, das Leiden oder der Sinn des Lebens. Die Briefe sind mit so viel Gefühl und Aufrichtigkeit geschrieben, dass man Werther verstehen kann, in seinen Handlungen und Gedanken, und sich nicht selten darin wiedererkennt.

Ich erinnere mich an eine Schulaufgabe, bei der es um die Beantwortung der Fragen ging: „Wie würde Werther heute einen Brief schreiben? Würde er überhaupt einen Brief schreiben? Oder eher eine SMS? Wie würde die SMS aussehen?“ Werthers Briefe in Form von einer SMS? Undenkbar. Es ist das Philosophische, bildlich Erzählende, Schwärmerische, Beschreibende, das seine Texte ausmacht. Ob es heute noch Menschen gibt, die solche Briefe schreiben können? Vielleicht bietet der kommende Weltpostkartentag ja einen guten Anlass dafür.

Empfehlenswert ist neben diesem Briefroman die Hörfassung. Das wohl schönste Hörbuch ist meiner Meinung nach die vom Literatur-Café, gelesen von Wolfgang Tischer. Es entstand in Zusammenarbeit mit dem dtv-Verlag und steht auf der Website literaturcafe.de zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Bild: Wilhelm Amberg: Vorlesung aus Goethes Werther, 1870 Gallery: Alte Nationalgalerie Berlin

 

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

4 Kommentare

  1. Avatar

    Hab ich auf meinem SuB 🙂

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    • Bücherstadt Kurier

      Vielen Dank für das Feedback! Es lohnt sich, auch die Rezensionen der anderen Teammitglieder zu lesen! 🙂
      Liebe Grüße, Alexa

      Antworten
  2. Bücherstadt Kurier

    Mehr zum ‚Werther-Effekt‘:
    „Bestimmte Formen der Berichterstattung über Suizide in den Medien können weitere Suizide als Nachahmungstaten hervorrufen. Dies wird in der wissenschaftlichen Literatur als ‚Werther-Effekt‘ bezeichnet. Nach dem Erscheinen von Goethes ‚Die Leiden des jungen Werther‘ kam es in ganz Europa zu Nachahmungstaten. Die Suizidenten orientierten sich sehr stark an der Romanvorlage.“ Hier ist eine Empfehlung zur Berichterstattung über Suizid:

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