Fremd in der Familie

von | 29.08.2023 | Belletristik, Buchpranger

Die Dänin Emeli Bergmann schreibt im Roman „Die andere Seite des Tages“ eindringlich über die Arbeit für fremde Familien: als Kindermädchen oder Au Pair. Auch Worteweberin Annika war nach dem Abi Au Pair und hat sich in manchem wiedergefunden.

Protagonistin in Bergmanns Roman ist Anna, die nach dem Tod ihres Bruders Dänemark verlassen und in Paris als Au Pair ein neues Leben begonnen hat. Ihr altes Leben, die Erinnerungen an die Familie und andere Personen, unterdrückt Anna lieber. Sie umgibt sich mit anderen Familien, anderen Kindern, anderen Leben – ohne selbst je ganz dazu zu gehören.

Eine Frage der Klasse

„Die andere Seite des Tages“ ist ein Roman von sozialen Klassen. Er erzählt von Menschen, die es sich leisten können, andere dafür zu bezahlen, dass sie für sie teuren Fisch kochen und mit den Kindern zum Angeln oder zum Ponyreiten gehen. Davon, wie Anna Mahlzeiten zubereitet, die sie selbst nicht essen wird, Kinder herzt, die sie vergessen werden, Partys vorbereitet, zu denen sie nicht eingeladen ist. Davon, wie die Kinder fragen, was das Kindermädchen denn arbeite – und nicht verstehen können, dass sie Geld dafür bekommt, mit ihnen zu spielen.

Was für ihre Mutter wie eine soziale Klassenreise aussieht, fühlt sich für Anna wie das Gegenteil an, denn weiterhin ist sie Arbeiterin und weiß genau, dass sie zum hochklassigen Leben um sie herum nicht dazugehört. Einige Situationen hinterlassen beim Lesen ein mulmiges Gefühl, einfach deshalb, weil sie in einer starken Schieflage spielen, die für viele Menschen Alltag ist.

„Aber was ist mit der Art, wie ich sonst etwas gebe? Von meinen Tagen, Stunden und Gedanken, im Tausch gegen einen Lohn, von dem ich außerhalb der Familien nicht mal ein bescheidenes Leben führen könnte. Ist das nicht eine zweifelhafte Art des Gebens?, denke ich. Und es ist unabänderlich und seltsam, dass innerhalb einer Familie eine so andere Beziehung herrscht.“

(S. 69)

Stimmungsvoll

Emeli Bergmann gelingt es, in dicht beschriebenen Situationen Einblick in mehrere Jahre aus Annas Leben zu geben. Wir lernen verschiedene Familien kennen, für die sie arbeitet, bis sie weiterzieht, neue Kinder, Eltern, Lebensstile. Annas Emotionen klingen hintergründig an, werden aber selten thematisiert, obwohl aus der Ich-Perspektive erzählt wird. So wirken die Stimmungen intensiv und gleichzeitig müssen wir Leser*innen selbst mitdenken, interpretieren, in den Text hineinfühlen.

Auch Annas Beweggründe für diese Art des Lebens werden nicht direkt angesprochen. Die Jahre als Au Pair strecken sich in die Länge und die Protagonistin verliert zunehmend den Halt, wechselt die Familien, ohne dass es ihr gelingt, sich etwas Eigenes aufzubauen. Durch die Zeitsprünge in der Erzählung wird das besonders deutlich. Sie hört auf zu schreiben und scheint bald außerhalb der Familien keine sozialen Beziehungen mehr zu haben. Eigene Kinder, von denen sie früher träumte, rücken in weite Ferne. Stattdessen wird die Erinnerung an ihre Herkunft intensiver.

Emeli Bergmann erzählt klar und stimmungsvoll von einem besonderen Angestelltenverhältnis. „Die andere Seite des Tages“ ist ein kleiner Roman, der in Erinnerung bleibt. Wer wie ich selbst als Au Pair gearbeitet hat, wird einige Gefühle und Situationen wiedererkennen, den Eindruck, fremd zu sein und doch irgendwie dazuzugehören zum Beispiel.

Die andere Seite des Tages. Emeli Bergmann. Übersetzung: Ursel Allenstein. ecco Verlag. 2022.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner