Geschichte in kleinen Dosen – Mit Zitaten um die Welt

von | 16.02.2018 | #philosophiestadt, Buchpranger, Sach- und Fachbücher, Specials

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – „Der Zweck heiligt die Mittel“ – „Der Staat bin ich“ – „Seit 5.45 wird zurückgeschossen“ – „Ich bin ein Berliner“– auch heute sind diese Sätze noch vielen Lesern geläufig. In „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ führt uns Helge Hesse von Thales Aufforderung „Erkenne dich selbst!“ bis zu Merkels selbstbewusstem „Wir schaffen das“ in 85 Sätzen durch fast 3000 Jahre Weltgeschichte. Erzähldetektivin Annette hat sich mit ihm auf die Reise begeben.

Lässt sich die Menschheitsgeschichte auf 85 Zitate herunterbrechen? Auf den ersten Blick scheint Hesses Werk genau dies zu suggerieren. In 85 einzelnen Kapiteln stellt er ebenso viele Sätze und ihre Bedeutung für die historische Entwicklung vor. Doch wird Weltgeschichte wirklich von herausragenden Persönlichkeiten geschrieben? Wer die Entwicklung der Menschheit nur an einzelnen Personen festmacht, zeigt eine sehr verkürzte Ansicht auf ein unvorstellbar komplexes Zusammenspiel der Menschen aller Epochen.

Doch Hesse benutzt die Sätze und ihre Sprecher vielmehr, um in die jeweilige Epoche einzuführen. Indem er die Sätze kontextualisiert, gibt er einen detailreichen und interessanten Einblick in die jeweilige Zeit und die Menschen, die in ihr lebten. Die Zitate scheinen die damaligen Ereignisse formelhaft zusammenzufassen. Hesse macht deutlich, was Churchills „Blut, Schweiß und Tränen“ über das Europa des Zweiten Weltkriegs aussagen oder Luthers titelgebendes „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ über die Reformation.

Verständliche Kontextualisierung, fehlende Diversität

Die einzelnen Kapitel gehen dabei gelungen ineinander über, sodass sich ein zusammenhängendes Bild der menschlichen Entwicklung ergibt. In den Kontexterklärungen zu den einzelnen Sätzen flicht Hesse dabei sogar noch weitere Zitate und Aussprüche ein, sodass sein Werk selbst über die 85 Sätze hinaus Lese- und Lernvergnügen bietet. Angeregt wird dieses noch durch die Literaturhinweise und die umfangreiche Bibliographie, mit deren Hilfe noch tiefer in einzelne historische Kontexte eingedrungen werden kann.

Unter den ausgewählten Sprechern sind neben großen Philosophen wie Sokrates, Aristoteles, Wittgenstein oder Sartre auch Politiker, Diktatoren, Schriftsteller, Künstler vertreten – aber auch Microsoft-Gründer Bill Gates oder Marquise de Pompadour, eine Mätresse des französischen Königs Ludwig XV. Besonders spannend liest sich das Kapitel über Immanuel Kant, einen der wohl wirkmächtigsten abendländischen Denker. Die Frage „Was ist Aufklärung“ beantwortet dieser in einem Satz: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ In seinem Schaffen verbindet Kant wissenschaftliche Erkenntnisse mit moralischen Überlegungen und bringt bis dahin scheinbar konträre philosophische Ansichten in Einklang miteinander. Die Quintessenz dieses großen Denkers weiß Hesse auf sechs Seiten auch für Laien verständlich zusammenzufassen.

Insgesamt macht die Kompaktheit von Hesses Ausführungen bei einer gleichzeitig auch für Nicht-Historiker, -Philosophen oder -Kulturwissenschaftler verständlichen Kontextualisierung die große Stärke des Buches aus. Hesses Werk ist als vergnügliche Bettlektüre ebenso geeignet wie als wissenschaftliches Nachschlagewerk zu einzelnen Episoden der Menschheitsgeschichte. Zu kritisieren bleibt jedoch die starke Dominanz westlicher Denker und auch Frauen sind mit einem Verhältnis von 5 zu 85 unterdurchschnittlich oft vertreten. Selbst ein dezidiert personenbezogener Blick auf die Geschichte dürfte etwas mehr Diversität zulassen.

„Können wir das schaffen?“ – „Ja, wir schaffen das!“

Letztendlich gelingt Hesse jedoch ein facettenreicher und interessanter historischer Abriss, der sich kurzweilig und unterhaltsam liest. Dabei schildert er die Ereignisse und historischen Kontexte weitestgehend neutral. Doch spätestens mit seinen ausgesprochen positiven Ausführungen zu Merkels „Wir schaffen das“ zeigt auch Hesse die eigene politische und moralische Einstellung. So endet die philosophische, gesellschaftspolitische und kulturelle Reise durch fast 3000 Jahre Menschheitsgeschichte mit einem hoffnungsvollen Appell: „Es ist an den Menschen in den Gesellschaften der freien Welt, den Aufforderungscharakter der Worte ‚Wir schaffen das‘ anzunehmen.“ In diesem Sinne: „I have a dream!“

Hier stehe ich, ich kann nicht anders – In 85 Sätzen durch die Weltgeschichte. Helge Hesse. Piper. 2016.

Ein Beitrag zum Special #philosophiestadt. Hier findet ihr alle Beiträge.
Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner