Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ wurde in den letzten Jahrzehnten viele Male in unterschiedlichen medialen Formen erzählt. Buchstabenakrobatin Melanie hat sich die Umsetzung des Klassikers als Comic von Benjamin von Eckartsberg und Chaiko angeschaut.
„Mord im Orient-Express“ ist der neunte Roman, in dem Agatha Christie den belgischen Privatdetektiv Hercule Poirot ermitteln lässt. Dank seines Freundes Monsieur Bouc, Direktor einer Eisenbahngesellschaft, bekommt der pensionierte Polizeibeamte für seine Reise nach London kurzfristig einen Platz im ausgebuchten Orient-Express. Auf der Fahrt durch Jugoslawien kommt der Zug mitten im Nirgendwo durch einen Schneesturm zum Stehen – die Weiterfahrt ist unmöglich. Kurz darauf wird der amerikanische Reisende Mr. Ratchett tot in seinem Abteil aufgefunden. Schnell ist klar, dass er durch zwölf Messerstiche ermordet wurde. Doch warum und durch wen? Der Fall ist mysteriös, denn Mr. Ratchetts Abteil war zum Tatzeitpunkt von innen verschlossen und es gibt keine Spuren, die darauf hinweisen, dass jemand den Zug verlassen hat. Der Täter bzw. die Täterin muss sich also noch an Bord des Orient-Expresses befinden. Abgeschieden von Polizei und Gerichten bittet Monsieur Bouc seinen Freund Poirot, den Fall aufzuklären. Es beginnt eine spannende Ermittlung, die mehr als ein Unrecht aufdeckt.
Wortgewandte Spurensuche
Typisch für das Genre Comic erzählt Benjamin von Eckartsberg die Handlungen in und um den Orient-Express ausschließlich über die Figurenrede; Rahmungen oder Erklärungen durch einen Erzähler gibt es nicht. Zu Beginn der Lektüre fühlte ich mich ein wenig „ins kalte Wasser geschmissen“, auf eine Zeit- und Ortsangabe folgen einige Panels, die den Selbstmord eines Familienvaters zeigen, anschließend sehen wir ein Liebespaar an Deck eines Bootes. Dieser Bruch in der Handlung, der sich auch in der Farbgebung der Panels widerspiegelt, lässt mich ratlos zurück – weder Erzähler noch Figuren haben das Gezeigte eingeordnet. Was hier warum passiert ist und was diese Szene mit den nachfolgenden Ereignissen zu tun hat, wird erst mit fortschreitender Handlung aufgeklärt. Aus meinem anfänglichen Unverständnis wurde schnell Neugierde und es zeigt sich, dass eine Erzählerrede auch in diesem Comic nicht nötig ist, um den Ereignissen zu folgen. Nach dem kurzen, wortlosen Start leiten uns die Dialoge geschickt durch den Krimi. Eckartsberg gelingt es, den Figuren durch unterschiedliche Sprechweisen und den Einbau französischer Aussprüche verschiedene Charakterzüge zuzuschreiben.
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Mit Liebe zum Detail
Mit einer Größe von knapp 24 x 32 cm ist dieser Comic nicht für die Handtasche gemacht. Doch dank des großen Formats kann man wunderbar im Orient-Express abtauchen und die vielen Details, die den Handlungsräumen eine besonders lebhafte Atmosphäre geben, in den Bildern von Comickünstler Chaikos finden: Textilien mit unterschiedlichen Mustern, Farben und Strukturen, Maserungen und Schnitzereien auf den holzvertäfelten Wänden des Zuges, die verschneite und mit dichten Nadelwäldern und Hügeln durchzogene Landschaft Jugoslawiens. Der Zeichner hat ein besonders Gespür dafür, die Stimmung der Erzählung einzufangen. Ebenso gelingt es Chaiko, den Figuren Persönlichkeit zu verleihen: Durch unterschiedliche Kleidung, Falten, Altersflecken und unterschiedliche Staturen erscheinen sie individuell und wirklichkeitsgetreu. In ihren Gesichtern spiegeln sich zudem Emotionen und Wesenszüge, die die Dialoge zum Teil nur andeuten können. Wechselnde Fokussierungen und Blickwinkel der Figuren lenken die Aufmerksamkeit der Leser*innen und Betrachter*innen und stellen die Handelnden und ihre Reaktionen auf die Geschehnisse in den Vordergrund.
Benjamin von Eckartsbergs und Chaikos Adaption von Christies „Mord im Orient-Express“ ist Teil der Reihe „Agatha Christie Classics“, in der ebenfalls „Hercule Poirots Weihnachten“ erschienen ist. Eckartsberg und Chaiko ist die Umsetzung des Krimiklassikers als Comic gut gelungen. Die Erzählung ist durch die Umsetzung in einem neuen Medium selbstverständlich verändert, doch wurden die wesentlichen Charakteristiken, die Spannung und die Atmosphäre von Christies Roman beibehalten. Die übersichtliche Panelstruktur leitet durch die Erzählung und leitet auch den Blick ungeübter Comicleser*innen geschickt durch die Seiten – langweilig oder eintönig sind die Buchseiten dadurch aber nicht. Eine schöne Interpretation und Würdigung eines Klassikers.
Mord im Orient-Express. Ein Poirot-Krimi. Nach dem Roman von Agatha Christie. Szenario: Benjamin von Eckartsberg. Zeichnungen und Farben: Chaiko. Aus der Reihe „Agatha Christie Classics“. Carlsen Comic. 2023. Ab 12 Jahren.
Ein Beitrag zum Themenjahr buch&kunst.
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