Leichenschau

von | 05.11.2015 | Kreativlabor

1. Auftakt

Die Bühne ist dunkel. Im Vordergrund die Umrisse eines Tisches, daneben ein Bestecktisch auf Rollen. Die Leiche betritt von der linken Seite die Bühne, legt sich auf dem Stahltisch zurecht, der Arzt kommt von der rechten Seite herein, ein Tuch bei sich. Auf dem Boden links vom Tisch liegt ein Regenschirm.

Leiche: (dreht den Kopf zum Publikum) Ein großer Regenschirm sorgt dafür, dass man darunter halbwegs trocken bleibt. Er schränkt leider auch das Sichtfeld ein.

Der Arzt deckt sie mit dem Tuch zu. Anschließend bleibt er hinter dem Stahltisch stehen, die Hände erhoben als stünde er kurz vor einer Operation. Er trägt grüne OP-Kleidung, eine Kopfbedeckung, aber keinen Mundschutz. Nachdem er sich positioniert hat, wird ein Projektor angeschaltet: Auf die dunkle Bühne wird nun die Videoprojektion einer jungen Frau mit braunem Haar auf einem Fahrrad gestrahlt. Im Rattern des älteren Geräts erwacht sie zum Leben, ihre Jacke bauscht sich wie ein Fallschirm hinter ihr im Fahrtwind, scheint von ihrem aufrechten Rücken davonflattern zu wollen, während die Trägerin sich nach vorne lehnt, der zunehmenden Steigung der Straße entgegen.
Der Arzt geht nach einigen Sekunden, während derer die Aufmerksamkeit des Publikums vom Hintergrund angezogen wird, näher zum Stahltisch. Er betätigt einen Schalter, der darüber von der Decke baumelt: Mit einem Klicken steht er in Operationslampen-Licht getaucht, die Aufnahme im Hintergrund steht auf Standbild, wirft ihr Bild auf die gesamte Szenerie, ehe sie erlischt.

Arzt: (nimmt ein Diktiergerät aus seiner Brusttasche, platziert es auf dem Bestecktisch und drückt auf eine Taste. Er seufzt, als er sich zurück zum Tisch wendet) Na dann wollen wir mal. (er blickt auf die Uhr, wendet sich dann zum Publikum) Beginn der Obduktion an Veronika Kunkl zur Abklärung der Todesursache, zehn Uhr siebzehn.

Er schlägt das Tuch über der Leiche zurück und greift zu einem Aktenbogen. Die Leiche, Veronika, in einem weißen Patientenkittel, setzt sich auf. Sie dreht sich zum Publikum, lässt die Beine baumeln, ehe sie diese übereinanderschlägt. Sie sitzt am linken Rand des Stahltisches.

Leiche: (dreht den Kopf in Richtung des Arztes, der wieder aus seiner Starre erwacht, als wolle sie zu ihm sprechen, doch er operiert am leeren Tisch als läge sie noch dort) Sie können mich Vero nennen. Das machen alle meine Freunde so. (sie blickt auf den Tisch hinab) Dieser Körper hier soll wohl ich sein – (sie spricht jetzt direkt zur leeren Fläche des Stahltisches, den sie nicht im Sitzen okkupiert) du siehst nicht aus wie ich. Du starrst viel zu tot durch die Gegend. (sie wendet sich kurz ab, ihr fällt jedoch noch etwas ein) Die Sommersprossen stehen dir übrigens noch immer nicht.

Arzt: (als hätte er sie nicht gehört, spricht er für das Diktiergerät) Die Verstorbene ist eine junge Frau, etwa ein Meter siebzig groß, Schuhgröße vierzig. Eine Narbe auf dem linken Knie.

Veronika: (verschränkt die Arme vor der Brust, wiegt den Kopf) Ich bin mit zwanzig zum ersten Mal in der Stadt Fahrrad gefahren, und gleich unglücklich gestürzt. Mein Knie hatte acht Stiche nötig. Die zwei Wochen, die ich daraufhin mit einer Schiene schwitzend und nicht sonderlich mobil verbracht habe, hätte ich ohne meine fürsorgliche Mitbewohnerin und die tausend Kitsch-Romane in ihrem Festplatten-Fundus nicht überstanden.

Arzt: (blickt auf die Akte) Sie ist vierundzwanzig – nein, fünfundzwanzig – Jahre alt.

Veronika: (lakonisch, zum Arzt) Mein Geburtstag war letzte Woche, am 12. Juni. Wir wollten vorgestern eigentlich endlich nachfeiern. (sie lächelt schief, zuckt mit den Schultern) Mir ist leider etwas dazwischengekommen.

Veronika steht auf und geht einige Schritte nach links. Das Scheinwerferlicht wandert mit ihr und wird abgedämpft, ein einziger gedämpfter Strahl erleuchtet das Tun des Arztes, der die Akte wieder auf den Bestecktisch legt und stumm mit der Obduktion weitermacht. Die Projektion startet erneut, zeigt diesmal Veronika von vorne, einen Regenschirm in ihre Achselhöhle geklemmt, auf den die dicken Tropfen prallen. Sie kämpft auf dem Fahrrad gegen Wind und Steigung.

Veronika: (geht um den Stahltisch herum, nimmt die Akte vom Beistelltisch und blättert kurz darin herum, ehe sie auf- und ins Publikum blickt) Ich bin gestern gestorben, nach einem Tag im Koma. Vorgestern war der Unfall. Und das soll der Tod sein? (sie scheint einen Moment lang ratlos zu sein, zuckt schließlich mit den Schultern und lächelt. Während sie spricht, tritt sie langsam zur Stelle, an der der Regenschirm am Boden liegt) Meine Pläne hätten eigentlich anders ausgesehen: Wir wollten die letzten Prüfungen feiern, meinen Geburtstag. Wir wollten auf der Dachterrasse grillen. (sie blickt zur Leinwand) Ich war früh dran, würde aber so oder so zu spät kommen. Ich bin immer zu spät dran, weil ich bei jedem Wetter mit dem Fahrrad fahre. (Veronika geht in die Knie, um den Regenschirm vom Boden aufzuheben, und demonstriert dem Publikum einen blau-grünen Regenschirm) Obwohl ich dieses eine Mal vielleicht hätte die U-Bahn nehmen sollen.

Arzt: (stimmt ihr brummend aus dem Hintergrund zu; ein Zufall: er sieht nur die Leiche, die es zu obduzieren gilt) Es hätte für dich besser laufen sollen, Veronika.

Man hört einen Warnton. In der Projektion scheint es als würde das Band reißen und verbrennen. Jemand flucht im Hintergrund, es wird dunkel und still. Gedämpftes Licht. Die Bewegung des Arztes ist wie zuvor eingefroren. Veronika dreht sich mit dem aufgespannten Schirm im Kreis, ehe sie sich zurück zum Stahltisch begibt, auf den sie sich legt. Den Regenschirm legt sie neben sich. Im Folgenden bleibt dieser Teil der Szenerie erstarrt.

Veronika: (hat den Kopf zum Publikum gedreht) Hätte ich die Ampel nicht übersehen – anders kann ich mir den Unfall nicht erklären! Ich konnte mit dem riesigen Regenschirm ja nicht übersehen werden – wäre ich am Ende noch rechtzeitig gekommen.

Im Bereich des Publikums knallt eine der Zugangstüren laut zu. Der Arzt zuckt merklich zusammen: damit zusammen zuckt auch das Licht. Zeitgleich springt ein vermeintlicher Zuschauer im braunen Anzug, der leise an Casablanca erinnert, auf als wolle er flüchten. Er bleibt beim Anblick des Ermittlers, der durch den Hauptgang in Richtung Bühne stapft, stehen. Der Ermittler trägt einen weißen Anzug ohne Krawatte, ein hellblaues Hemd und Segelschuhe. Er trägt eine Sonnenbrille. An seinem Jackett ein Ausweis, der ihn als Mitglied der „SOKO“ auszeichnet. Auf der Bühne platziert er sich mit etwas Abstand zur Linken des Stahltischs, späht einen Moment lang ins Publikum.

Ermittler: (wendet sich mit lauter Stimme in Richtung Publikum) Heintz, wo bleiben Sie?

Fridolin Heintz, der vorhin Aufgesprungene, salutiert und bahnt sich einen Weg zum Hauptgang und wieselt hektisch nach vorne zur Bühne.

Heintz: (gehetzt, als würde er mit den Aufgaben, die die Welt ihm stellt, nicht wirklich fertig) Zur Stelle, Herr Kommissar!

Kommissar Horus: (ignoriert Heintz‘ Gebaren) Gibt es schon Neues aus dem Leichenhaus?

Heintz geht zum Beistelltisch, wo er die Akte hervorholt. Er wagt nur einen kurzen Blick in Richtung der Leiche, ehe er sich betont schnell abwendet und einen schnellen Schritt in Richtung Kommissar macht, dann allerdings kurz innehält.

Heintz: (leise zu sich) Armes Ding. (er geht noch einen Schritt, hält allerdings inne als falle ihm noch etwas ein. Heintz marschiert in zackigem Schritt zurück zum Stahltisch) Sie verzeihen, junge Frau. (er greift nach dem Regenschirm, klemmt ihn sich unter den Arm und kehrt nun zurück zum Kommissar, die Akte wie eine Rettungsboje an seine Brust gepresst. Er überreicht sie ohne Zögern.)

Kommissar Horus: (blättert in der Akte, ehe er seine Sonnenbrille mit der rechten Hand abnimmt und sinnierend mit zusammengekniffenen Augen ins Publikum sieht) Es mag aussehen wie ein normaler Unfall mit Todesfolge.

Heintz: (spielt mit dem Regenschirm) Es sieht aber aus wie ein Unfall mit Todesfolge.

Kommissar Horus: (erkundigt sich spielerisch bei Heintz) Aber warum würden wir sonst gerufen? Die Zufälle häufen sich.

Der Lichtkegel um den Kommissar und Heintz erlischt, stattdessen läuft nun eine neue Projektion: vier verschiedene Fahrradfahrerinnen werden gezeigt, die kurz darauf von einem Auto angefahren werden.

Erika

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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