Niceville – Eine Symphonie des Grauens

von | 18.05.2016 | Belletristik, Buchpranger

Carsten Stroud_Niceville„Carsten Strouds Niceville-Trilogie ist genial, und das Beste hat er sich bis zum Schluss aufgehoben.“ Mit diesen Worten lobt niemand geringeres als Horror-Meister Stephen King die drei Bände des kanadischen Autors. Für Erzähldetektivin Annette ist klar: Wenn ihr Lieblingsautor etwas empfiehlt, lohnt sich ein Blick.

Am Anfang war Rainey Teague

Die Geschichte beginnt mit dem Verschwinden des zehnjährigen Rainey Teague. Er ist der Fixpunkt der Erzählung. Neben Rainey lernen wir auch Mavis Crossfire und Nick Kavanaugh kennen, Polizisten, die nach dem Jungen suchen. Außerdem erfahren wir von Tallulahs Wall und Crater Sink, zwei Orten im beschaulichen Südstaaten-Städtchen Niceville, die eine zentrale Rolle für die Geschehnisse spielen.
Die folgenden Kapitel führen immer neue Erzählstränge ein, in deren Mittelpunkt wir ganz unterschiedliche Personen kennen lernen: Charlie Danzinger und seinen besten Freund Coker. Delia Cotton und ihre Main-Coon Katze Mildred Pierce. Byron Dietz und seine Frau Beth. Glynis Ruelle und ihre Schwester Clara Mercer. Lemon Featherlight und Morgan Littlebasket. Auf den ersten Blick haben die Geschichten nicht viel miteinander zu tun. Die Abwechslung der einzelnen Episoden macht Niceville jedoch zu einem kurzweiligen Lesevergnügen.

Nach und nach führt Stroud die Schicksale der Menschen zusammen. Dabei ist es nicht immer ganz leicht, die einzelnen Personen und ihre Beziehungen auseinander zu halten. Das Ende des ersten Bandes wirkt sehr abrupt und die Leser fühlen sich in der Luft hängen gelassen. Die Zusammenführung gelingt in den folgenden Büchern sehr viel besser.

Niceville ist kein netter Ort

Carsten Stroud_Die RückkehrGeschickt verwebt der Autor Kriminalfälle mit übernatürlichen Elementen und erzählt im Hintergrund eine Geschichte, die immer entsetzlichere Ausmaße annimmt. So langsam wird klar, was Horror-Meister Stephen King an den Büchern gefallen hat. Unter den beschriebenen Umständen zweifeln Strouds Figuren regelmäßig an ihrer geistigen Gesundheit. Schade ist jedoch, dass sie sich selbst für eine so abgedrehte Welt wie die von Niceville unlogisch verhalten.

So scheinen die Erlebnisse des ersten Bandes in Teil zwei „Die Rückkehr“ wie weggewischt. Nachdem Nick Kavanaugh selbst Zeuge einiger – sagen wir „eigenartiger“ – Geschehnisse wurde, sollte er die drohende Gefahr erkennen können. Stattdessen ignoriert er bewusst die offensichtlichen Hinweise und erklärt sich alles aus seinem als Polizist reichhaltigen Erfahrungsschatz mit menschlichen Straftaten heraus.

Vielleicht möchte Stroud seinen Figuren einfach eine starke Selbsttäuschung unterstellen. Vielleicht soll uns ihr Verhalten gerade die ganz menschliche Eigenschaft vor Augen führen, Dinge zu ignorieren, die wir nicht verstehen können. Aber wissen die Protagonisten nicht schon viel mehr und könnten sich der übernatürlichen Gefahr viel früher und viel planvoller stellen? Die Situation verschlimmert sich rasant, während gleichzeitig die Ursprünge immer weiter in der Zeit zurückverfolgt werden. Dafür, dass Niceville bereits seit hunderten von Jahren ein Problem zu haben scheint, eskaliert die Situation schließlich viel zu schnell in nur wenigen Monaten.

Carsten Stroud_Der AufbruchLeichen pflastern seinen Weg

Im dritten Band „Der Aufbruch“ gelangt die Geschichte schließlich zu ihrem brutalen und blutigen Höhepunkt. Die geschilderten Ereignisse sind nichts für Zartbesaitete und der Lektüre vor dem Einschlafen ist abzuraten. Wer sich jedoch durch die Berge an Körperteilen, weggeschossenen Köpfen, durchtrennten Körpern und auf dem Boden verteilter Gedärme kämpft, der wird belohnt mit einer Erzählung, die so rasant an Schnelligkeit zunimmt, dass man das Buch vor Spannung kaum noch aus der Hand legen möchte.
Der Aufbruch ist gespickt mit unvorhersehbaren Wendungen, die das Lesen zu einem wahren Vergnügen machen. Auch stilistisch hat sich der Autor im Verlauf der Romane deutlich weiter entwickelt. Er findet den Mut, sich seiner eigenen Sprache zu bedienen, die die eigensinnige Erzählweise bestens unterstützt.

Die Ernüchterung folgt auf dem Fuße

Bei all der aufkommenden Dramatik und den geweckten Erwartungen ist es jedoch umso enttäuschender, dass die große Schwachstelle der Niceville-Trilogie ihr Ende ist. Hier gelingt es Stroud nicht, die gegebenen Versprechen einzuhalten. Vielleicht hat er vorher einfach zu hoch gepokert?
Die Auflösung erinnert ein wenig an eine Dr. House-Episode: Über 90 Prozent der Zeit bleibt des Rätsels Lösung in weiter Ferne, bis schließlich mit einem großen Rundumschlag alles geklärt werden soll. Doch schafft es Stroud nicht, sämtliche Fragen zu beantworten. Auch das „Sechs Monate später“-Sequel besteht lediglich aus einer Aneinanderreihung klischeebehafteter Happy Ends.

Fazit

Carstens Strouds Niceville-Trilogie lässt ihre Leserschaft sprachlos zurück. Teilweise ist dies der Genialität geschuldet, mit der die einzelnen Handlungsstränge erst etabliert, dann miteinander verwoben und schließlich auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Doch verwehrt es das schwache Ende den Lesern, zu einem Abschluss gelangen zu können. Das soll alles gewesen sein? Mehr Erklärung gibt es nicht?

Insgesamt gibt sich der Autor jedoch große Mühe, seine Leser mitzunehmen. Im Verlauf des zweiten und besonders des dritten Bandes lässt er immer wieder kurze erklärende Sätze einfließen, die die bisherige Handlung zusammenfassen. Wirklich verstehen lässt sich die Geschichte nur als Trilogie, die in möglichst nicht allzu großem Abstand zueinander gelesen werden sollte. Auf diese Weise kann die umfangreiche Geschichte ihr gesamtes Potential entfalten.

Und vielleicht zeigt sich im Finale ja das Genie des Autors. Eventuell sind die Fragen bewusst unbeantwortet, bietet das Ende absichtlich die Möglichkeit zur persönlichen Deutung. Möglicherweise hatte Stroud das Konzept eines Stanley Kubrik oder eines Alain Robbe-Grillet vor Auge. Wer über das offene Ende hinwegsehen kann, der wird an Strouds Niceville-Trilogie mit Sicherheit seine Freude haben. Zum einmaligen Lesen sind die Romane in jedem Fall zu empfehlen.

Niceville. Carsten Stroud. 2012. Dumont. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren.
Die Rückkehr. Carsten Stroud. 2013. Dumont. Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje.
Der Aufbruch. Carsten Stroud. 2015. Dumont. Aus dem amerikanische Englisch von Daniel Hauptmann.

Bücherstadt Magazin

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